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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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Beispiel über angeblich unmoralische Fraktionsdisziplin entrüsten. Aber auch der seriöse Journalismus und die öffentliche Meinung insgesamt sind nicht frei von dieser Attitüde. Das gilt besonders für manche Wirtschaftswissenschaftler, die einer Regierung nach der anderen vom Katheder herunter ideale Ratschläge erteilen, die aber in der demokratischen Wirklichkeit nicht realisierbar sind, weil hier ein Handeln ohne Berücksichtigung anderer Meinungen und Interessen gar nicht möglich ist.
    Gleichwohl gibt es in der Tat üble Kompromisse, zum Beispiel zu Lasten Dritter oder zu Lasten der Zukunft. Auch gibt es unzureichende Kompromisse, die das vorliegende Problem nicht lösen, sondern nur den Anschein einer Lösung hervorrufen. So steht also der notwendigen Tugend des Kompromisses die Versuchung zum durchaus verächtlichen Opportunismus gegenüber, besonders zum opportunistischen Kompromiß mit der öffentlichen Meinung oder mit Teilen der öffentlichen Meinung. Deswegen bleibt gerade auch ein kompromißwilliger Politiker auf sein eigenes Gewissen angewiesen. Er darf nicht zustimmen, wenn sein Gewissen widerspricht. In solchem Fall bleibt ihm nur der offene Dissens, manchmal nur der Rücktritt oder der Verlust seines Mandats – beides habe ich im Laufe von vier Jahrzehnten bei Kollegen der CDU/CSU wie der SPD oder der FDP mehrfach erlebt.
    Am spektakulärsten war der Rücktritt des Bundesministers Gustav Heinemann, der im Protest gegen Adenauers Wiederbewaffnung 1950 sein Amt als Innenminister aufgab und zwei Jahre später aus der CDU austrat. Nach dem Scheitern der von ihm mitbegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) trat er 1957 in die SPD ein (und wurde nach einem weiteren Jahrzehnt ein geachteter Bundespräsident). Einige spätere Fälle von Parteiwechseln waren in ähnlicher Weise gewissensbedingt. Es gab aber auch Parteiwechsel aus dem opportunistischen Motiv, das eigene Mandat zu behalten und die eigene Wiederwahl zu ermöglichen. Tritt ein Minister aufgrund seiner Überzeugung oder aus Gewissensgründen zurück, wird dies mit Rücksicht auf das Ansehen der Regierung oder der Partei nach außen fast immer anders begründet; ein Mandatsverzicht wird meistens bis zur nächsten Wahl verschoben. In den Fällen, die mir näher bekannt wurden, wirkten oft mehrere Faktoren zusammen, darunter oft auch private Motive, und es handelte sich um schmerzhafte Entscheidungen. Im Gegensatz zu der in den Medien vorherrschenden Meinung, es gehe den Politikern entscheidend um ihre persönliche Macht, ist es oft weniger der »Machtverlust«, der schmerzt, sondern eher der Verlust einer Aufgabe und der Verlust öffentlicher Anerkennung.

Der Frieden verlangt den Kompromiß
    Auch in der auswärtigen Politik sind Kompromisse immer wieder notwendig, um den Frieden zwischen den Staaten zu wahren. Kein nationaler sacro egoismo kann auf Dauer friedlich funktionieren. Allerdings hat das Ideal des Friedens – von den Tagen Alexanders des Großen oder Caesars bis hin zu Hitler und Stalin – in der Praxis der auswärtigen Politik nur selten eine entscheidende Rolle gespielt. Ebensowenig fand es Eingang in die Staatsethik, in die politische Philosophie oder in die Politikwissenschaft. Im Gegenteil, jahrtausendelang, nicht erst seit Machiavelli und Clausewitz, galt der Krieg als selbstverständliches Element der Politik.
    In den westlichen Kulturen neigen die Menschen dazu, ihre Ideale von Gesellschaft, Politik und Staat in Schlagworten zusammenzufassen. Besonders einprägsam sind Kombinationen aus drei Begriffen. Thomas Jeffersons »Life, liberty and the pursuit of happiness« (in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776) ist mir immer extrem individualistisch vorgekommen. »Liberté, egalité, fraternité« war mir zwar sympathischer, klang in meinen Ohren aber nach erstrebter Gleichmacherei. Die drei Grundwerte der deutschen Sozialdemokratie (im Godesberger Grundsatzprogramm 1959, an dessen Erarbeitung ich als Berichterstatter beteiligt gewesen bin): »Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität« habe ich aus Überzeugung mitgetragen. Später, beim Nachdenken über diese Trilogien ist mir aufgefallen, daß sie zwar alle die Freiheit einschließen, nicht aber das Prinzip der Demokratie, also auch nicht das Prinzip der Verantwortung des einzelnen – und auch nicht das Prinzip des Friedens.
    Der Frieden wurde erst im Zuge der europäischen Aufklärung zum erstrebenswerten politischen Ideal erhoben, so zum Beispiel von Hugo
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