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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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de Groot oder Immanuel Kant. Aber noch während des gesamten 19. Jahrhunderts ist Krieg für die europäischen Großstaaten eine selbstverständliche Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geblieben; und so auch bis in das 20. Jahrhundert. Erst das entsetzliche Elend der beiden Weltkriege führte dazu, daß das in breiten Volksschichten längst vorhandene Bewußtsein vom Krieg als einem vermeidbaren Kardinalübel der Menschheit sich auch führenden Politikern mitgeteilt hat. Der Versuch des Genfer Völkerbundes 1919 und die Begründung der Vereinten Nationen 1945 bezeugen das; ebenso die auf Gleichgewicht zielenden Verträge zur Rüstungsbegrenzung zwischen den USA und der Sowjetunion und nicht zuletzt die Begründung der europäischen Integration seit den fünfziger Jahren.
    Die Bonner Ostpolitik gegenüber Moskau, Warschau und Prag in den siebziger und achtziger Jahren war ein denkwürdiges Beispiel, denn sie unterstrich eine entscheidende Voraussetzung jeder Friedenspolitik: Wer als Staatsmann dem Frieden dienen will, der muß mit dem Staatsmann auf der Gegenseite reden – das heißt: mit dem früheren oder dem möglicherweise künftigen Feind!–, und er muß ihm zuhören. Reden, Zuhören und wenn möglich einen Kompromiß schließen. In der Schlußerklärung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975 in Helsinki wurde zum Beispiel ein gehöriger Kompromiß unterzeichnet: Die Sowjetunion erhielt die Unterschriften der westlichen Staatsmänner unter die Festschreibung der Staatsgrenzen im Osten Europas, der Westen erhielt die Unterschriften der kommunistischen Staatschefs unter die Menschenrechte (in Gestalt des nachmals berühmt gewordenen Korb III der KSZE). Ein umgekehrtes, negatives Beispiel geben die seit Jahrzehnten wiederkehrenden Kriege und Gewalttaten zwischen dem Staat Israel und seinen palästinensischen und arabischen Nachbarn: Wenn beide Seiten nicht miteinander reden, bleiben Kompromiß und Frieden eine bloße Illusion.
    Seit 1945 verbietet das Völkerrecht in Gestalt der Satzung der Vereinten Nationen jede gewaltsame Einmischung von außen in die Angelegenheiten eines Staates. Allein der Sicherheitsrat darf eine Ausnahme von dieser Grundregel beschließen. Mir will es dringend nötig erscheinen, eine ganze Reihe einflußreicher Regierungschefs, ihre Außenminister und deren Vertreter im Sicherheitsrat an diese Grundregel zu erinnern. So war zum Beispiel die militärische Intervention im Irak 2003, noch dazu lügenhaft begründet, eindeutig ein Verstoß gegen das Prinzip der Nichteinmischung, ein eklatanter Verstoß gegen die Satzung der UN. Politiker vieler Nationen sind an diesem Verstoß mitschuldig. Ebenso tragen Politiker vieler Nationen (darunter auch deutsche) Mitverantwortung für mehrere völkerrechtswidrige Interventionen »aus humanitären Gründen«.
    Aus voller innerer Überzeugung haben wir 1990 gemeinsam mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs den Zwei-plus-Vier-Vertrag ratifiziert, in dem die außenpolitischen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung geregelt sind. Der Vertrag enthält unsere Verpflichtung, »daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen«. Ohne diesen Vertrag wäre die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten nicht möglich geworden, er ist unsere völkerrechtliche Grundlage. Trotzdem hat die neue Bundesrepublik Deutschland sich 1999 unter amerikanischem Druck an der militärischen Einmischung auf der Balkan-Halbinsel beteiligt, obgleich kein Beschluß des Sicherheitsrates vorlag und die »humanitäre Intervention« folglich ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen darstellte. Gewiß haben damals rationale Abwägungen eine Rolle gespielt, darunter auch das deutsche Interesse an der Vermeidung von Flüchtlingsströmen, die auf Mitteleuropa gerichtet gewesen wären. Aber der humanitäre Aspekt wurde in den Vordergrund gestellt: Es gelte, einen blutigen Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zu verhindern. Der Außenminister Fischer hat unsere völkerrechtswidrige Beteiligung sogar mit dem Hinweis auf den millionenfachen deutschen Judenmord in Auschwitz zu rechtfertigen versucht. Nicht wenige der in den siebziger und achtziger Jahren als pazifistische »Friedenskämpfer« angetretenen Wortführer sind in den späten neunziger Jahren unversehens zu gewaltbereiten Interventionisten geworden und haben
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