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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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entlohnte Karriere; heute gewährt das Abgeordnetenmandat oftmals einen höheren Lebens standard als der vorher ausgeübte Beruf. Während Konrad Adenauer oder Ludwig Erhard, Kurt Schumacher oder Ernst Reuter – von ihrer politischen Aufgabe besessen und beherrscht – zwangsläufig »von der Politik leben« mußten, sehen heutzutage manche politisch interessierte Leute den Beruf und die Laufbahn eines Politikers als erstrebenswert an, weil mehr als auskömmlich. Ich will diese Entwicklung nicht kritisieren, sie ist auch keineswegs eine deutsche Besonderheit; dennoch seien hier einige persönliche Bemerkungen erlaubt.
    Als ich 1982 aus dem Amt schied, hatte ich die Hypothek auf unser Reihenhaus, ein serienmäßig gebautes Haus der »Neuen Heimat«, Anfang der sechziger Jahre mit dem Maschinengewehr hingeschossen, immer noch nicht zurückgezahlt. Es war eine geringe Resthypothek, aber doch war ich all die Jahre nicht in der Lage gewesen, sie auszulösen. Der Bundeskanzler wird angesichts der vielen unausweichlichen Ausgaben, die er jeden Tag zu bestreiten hat, nicht sehr hoch bezahlt. Heute verdient ein einfacher Abgeordneter gutes Geld, manch einer steht besser da als zuvor. Er war bisher vielleicht Betriebsratsvorsitzender oder Major der Bundeswehr, jetzt ist er plötzlich Bundestagsabgeordneter, hat einen Freifahrschein auf der Bahn und eine nicht steuerpflichtige Aufwandsentschädigung, die so hoch ist wie seine Diäten.
    Das war vor fünfzig Jahren anders. Der Lebensstandard der Familie Schmidt wurde 1953 durch meinen Eintritt in den Bundestag deutlich gesenkt. Meine Frau fing an, Haushaltsbuch zu führen: ein Pfund Zucker soundsoviel, ein halbes Pfund Kaffee soundsoviel (die Bücher sind noch vorhanden). Ich fuhr mit dem Auto von Hamburg nach Bonn und zurück wegen des Kilometergeldes, das der Bundestag zahlte; auch von Bonn nach Brüssel und zurück fuhr ich wegen des Kilometergeldes, mit dem ich den Kredit zurückzahlen konnte, den ich zum Kauf eines Gebrauchtwagens aufgenommen hatte. Heute ist das Mandat im Bundestag für viele ein sozialer und finanzieller Aufstieg – und für viele ist das ein Anreiz. Schon deshalb darf nach meinem Gefühl die Vergütung der Parlamentarier nicht angehoben werden, jedenfalls nicht, solange der Bundestag aus sechshundert Abgeordneten besteht. Solange man deren Bezüge nicht anhebt, darf man auch die der Minister nicht anheben, denn dann würden einige Abgeordnete aus finanziellen Gründen Minister werden wollen.
    Der Soziologe Max Weber war der erste, der in Deutschland sorgfältig über »Politik als Beruf« nachgedacht hat. Sein Vortrag aus dem Jahre 1919 ist immer noch lesenswert. Wenngleich es damals noch kaum Berufspolitiker gegeben hat, bleiben Webers Analysen weitgehend zutreffend; einige der Anforderungen, die er an den Berufspolitiker richtet, sind ebenso grundlegend wie aktuell. Dazu gehört Webers Charakterisierung des Berufspolitikers durch drei Qualitäten: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß; dazu gehört insbesondere seine Unterscheidung allen ethisch orientierten Handelns in zwei grundverschiedene, gegensätzliche Maximen: »gesinnungsethisch« und »verantwortungsethisch«.
    Vom Berufspolitiker muß vor allem verlangt werden, daß er die Folgen seiner Entscheidungen und Handlungen verantworten kann. Er muß nicht nur die von ihm beabsichtigten Folgewirkungen verantworten, sondern auch die unbeabsichtigten Folgen und die Nebenwirkungen. Das Bewußtsein seiner Verantwortung zwingt ihn in jedem konkreten Fall zu einer vernunftgeleiteten Analyse und zur Abwägung sämtlicher Faktoren, der erstrebten Vorteile ebenso wie der in Kauf genommenen Nachteile. Mit dem Wort »Augenmaß« umschrieb Weber die Fähigkeit, »die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen«, also die tatsächlich gebotene Anstrengung der eigenen Vernunft und der eigenen Urteilskraft. Die Vernunft kann sich irren. Gleichwohl bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz, vor der ein Politiker sich zu verantworten hat. Eine Verletzung des eigenen Gewissens untergräbt Moral und Anstand – und außerdem das Vertrauen anderer in die Integrität der eigenen Person.
    In der Regel steht dem Politiker genug Zeit zur Verfügung, alternative Möglichkeiten zu prüfen und Rat von vielen Seiten einzuholen, bevor er sich entscheidet. In der Regel sind nicht allein mehrere Alternativen und deren vorhersehbare Folgen abzuwägen, sondern auch vielerlei Varianten im
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