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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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von den Interessen unserer Nachbarn, insbesondere unserer Nachbarn im Osten, und ihren Erfahrungen mit uns Deutschen. Wir wissen heute immer noch zu wenig von den Polen und Tschechen, aber auch von Franzosen und Engländern, den Holländern, Belgiern und Dänen. Auf der anderen Seite sieht es zumeist nicht besser aus. Es ist ein vielen europäischen Völkern gemeinsames Phänomen, daß ihnen die bösen Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahrhunderte mit ihren Nachbarn gemacht haben, meist am besten im Bewußtsein haften.
    Haben wir Deutsche aus unserer Geschichte genug gelernt? Gelingt es uns wenigstens, das große Glück der Wiedervereinigung in einen ökonomischen und zugleich sozialen Erfolg umzumünzen? Warum sind wir fähig, im Export Weltmeister zu sein, aber zugleich unfähig, im eigenen Land eine gefährliche Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen? Ist die politische Klasse in Deutschland nicht in der Lage zu erkennen, was das öffentliche Wohl gebietet? Oder mangelt es ihr an der Courage, den Wählern unpopuläre Wahrheiten zuzumuten? Oder weigert sich der Wähler, solchen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen? Oder alles zugleich?
    Wissen wir eigentlich, wer wir sind? Wissen wir, wer wir sein wollen? Die heutigen Deutschen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von ihren Vorfahren; ein Vergleich mit dem 19. und 20. Jahrhundert, mit Wilhelminismus, Nazi-Zeit und vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft im Osten offenbart gewaltige Wandlungen unserer rechtlichen und politischen Kultur. Auch unsere soziale und ökonomische Kultur hat enorme Veränderungen durchgemacht; diese Veränderungen haben das Denken vieler Menschen und ihr Verhalten beeinflußt. Wir sind gereift.
    Wir sind nicht mehr dieselben, aber dürfen wir deshalb sagen: Wir sind wesentlich anders geworden? Wir haben schwere Beschädigungen unserer Seele davongetragen und daraus gelernt, aber wie weit haben wir auch unser geschichtliches Bild von uns selbst revidiert? Welches Bild von uns haben wir heute? Die Wunden jedenfalls, die Deutschland seinen Nachbarn zugefügt hat, sind nur zum Teil ausgeheilt; sie könnten wieder aufbrechen. Wir Deutschen bleiben eine gefährdete Nation – gefährdet sowohl von innen als auch von außen.
    Zweimal innerhalb des 20. Jahrhunderts haben die Deutschen eine weltpolitische Führungsrolle angestrebt, beide Male sind sie damit jämmerlich gescheitert. Weil unsere politische Klasse und weil die Nation als Ganze die Konsequenzen daraus gezogen haben, muß eigentlich keiner unserer Nachbarn den Verdacht hegen, es könnte ein drittes Mal einen Versuch geben. Die Epoche der beiden Weltkriege und des anschließenden Kalten Krieges zwischen Ost und West erscheint endgültig überwunden. Die seit dem Schuman-Plan des Jahres 1950 schrittweise vollzogene Einbettung der westlichen Teilnation in den gemeinsamen Markt und später ganz Deutschlands in die Europäische Union hat uns vor riskanten Alleingängen bewahrt.
    Seit sechzig Jahren trete ich für die Selbsteinbindung Deutschlands in die Gemeinschaft der europäischen Völker ein. Dabei hat mich nicht Europa-Idealismus geleitet, sondern meine Einsicht in das strategische Interesse unseres Volkes. Auch im 21. Jahrhundert kann die vernünftige Abwägung unseres strategischen Interesses zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Deshalb setze ich meine Hoffnung auch für morgen auf die fortschreitende Vertiefung der europäischen Integration und auf stetige deutsche Mitwirkung.
    Die Nationen Europas spüren gegenwärtig vielerlei Gefahren – auch Gefahren von außerhalb Europas. Deshalb wollen ihre politischen Führer die Nationen enger zusammenbinden. Aber die nationalen Traditionen der Europäer – ihre unterschiedlichen Sprachen, ihre jeweilige Nationalgeschichte, ihre verschieden gewachsenen politischen Strukturen – stehen diesem Willen im Wege. Deshalb bleibt die Errichtung der Europäischen Union ein langsamer und mühevoller Prozeß. Er könnte schwere Rückschläge erleben. Er könnte auch fehlschlagen.
    Wir Deutschen, in der Mitte des Kontinents lebend, sind stärker als alle anderen Nationen darauf angewiesen, daß die Union zum Erfolg geführt wird. Ungeduld und Übereifer können den Erfolg gefährden. Und ein deutscher Führungsanspruch, auch ein unausgesprochener, könnte ihn unmöglich machen. Haben alle Deutschen das endlich verstanden?
    Erste Überlegungen zu diesem Buch gehen zurück in das Jahr 2003. In den folgenden Jahren wurde die Arbeit mehrfach
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