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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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Kaufmann, vom Geldverleiher oder Bankier, vom Arbeitgeber oder vom Soldaten im Krieg verlangt werden müssen. Weil im Laufe des 20. Jahrhunderts die gesetzgebenden wie die regierenden Politiker ihr Amt immer seltener als Ehrenamt und immer häufiger als Hauptberuf ausübten, scheint es mir an der Zeit, daß Politikwissenschaftler und Moralphilosophen sich bemühen, eine Ethik des Berufspolitikers zu fixieren. Soweit ich sehe, liegen Versuche zu einem solchen Kanon oder Kodex noch nicht vor, jedenfalls nicht in Europa oder Nordamerika. Wohl aber findet man in der Literatur, vielfältig verstreut auch in manchen Memoiren von Politikern, durchaus in größerer Zahl einzelne Elemente, die als Bausteine in Betracht zu ziehen wären.
    Die Ethik des Berufspolitikers bedarf so wenig wie die politische Moral des Staatsbürgers einer religiösen Grundlage oder eines spezifischen religiösen Bekenntnisses. Viele Deutsche haben sich heute vom Christentum gelöst und ihre Kirche verlassen, manche haben sich auch von Gott losgesagt – und können gleichwohl Gutes tun und gute Nachbarn sein. Viele Menschen bedürfen der Religion; aber Moral und Anstand hängen nicht davon ab, ob einer die Lehren des Buddhismus oder des Hinduismus kennt oder die Regeln des Koran oder der Thora oder des Neuen Testaments befolgt. Heute teilt die überwiegende Mehrheit der Deutschen – und so auch die überwiegende Mehrheit unserer Berufspolitiker – andere wichtige, sie bindende Grundüberzeugungen. Ich nenne an erster Stelle die unveräußerlichen Menschenrechte, das Prinzip der Demokratie und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Die innere Bindung an diese Grundwerte ist offenbar unabhängig vom eigenen Glauben oder Nichtglauben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß alle drei Prinzipien in den christlichen Bekenntnissen nicht enthalten sind.
    Das Grundgesetz ist aus gutem Grund nicht auf christlichen oder anderen religiösen Lehren aufgebaut. Es gilt mit Recht für jedermann. Es war gut, daß Artikel 1 des Grundgesetzes die Würde des Menschen als unantastbar an die Spitze gestellt und zum Fundament unserer staatlichen Verfassung gemacht hat. Alle Grundrechte und die damit verbundenen Grundwerte der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaats- und des Sozialstaatssystems, aber auch alle Verantwortlichkeiten der Politiker leiten sich daraus ab. Allerdings reicht die geschriebene Verfassung allein nicht aus, um tatsächlich das ganze Land in guter Verfassung zu halten. Man braucht – neben vielerlei geistigen, wissenschaftlichen, religiösen, künstlerischen und ökonomischen Kräften – jedenfalls den Verfassungsgehorsam der Regierenden wie der Regierten; man braucht aber auch die Kontrolle der Regierenden durch ein oberstes Gericht, durch das Parlament und am Ende durch die wahlberechtigten Bürger. In jedem Staat gibt es sowohl bewußte als auch fahrlässige Verstöße gegen das gesetzte Recht; es gibt aber auch oft genug den Fall, daß ein Bürger nach sorgfältiger Prüfung meint, innerhalb der Grenzen des Rechts zu handeln, während später ein Gericht eine Rechtsverletzung feststellt. Solche Konflikte sind oft Interessenkonflikte – und zugleich moralische Konflikte. Anstand und Moral sind allerdings nur selten justitiabel.
    Was nun den Beruf des Politikers angeht, so halte ich es für ein Mißverständnis, wenn allen Bewerbern um ein politisches Mandat leichthin unterstellt wird, sie strebten vor allem nach Macht. Bei vielen spielt auch das Streben nach öffentlicher Anerkennung eine erhebliche Rolle. Tatsächlich liegt aber vielen Bewerbungen wohl eher das Bestreben zugrunde, auf dem Boden der eigenen politischen Gesinnung einen Beitrag zu leisten, Bei manchen Politikern entfaltet sich im Laufe ihres Lebens geradezu eine Leidenschaft zum Dienst am öffentlichen Wohl.
    Im ersten Nachkriegsjahrzehnt gab es viele Abgeordnete, die ihr Mandat in dem Bewußtsein ausübten, einer moralischen Pflicht zu folgen. Sie sahen es als ihre wichtigste Aufgabe an, mit aller Kraft dazu beizutragen, daß sich die Grausamkeiten der Nazi-Zeit niemals wiederholten. Ihr Lebensstandard war gering, viele waren in ihrem bürgerlichen Beruf bessergestellt gewesen denn als Abgeordnete. In den folgenden Jahrzehnten hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Zwar geht es vielen auch heute noch darum, aus politischer Überzeugung eine Aufgabe zu übernehmen (und dabei die eigene Geltung hervorzukehren). Aber vielen geht es heutzutage auch um eine gut
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