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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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Detail. Und nicht nur die Grundlinien, auch viele Einzelheiten sind umstritten und umkämpft, nicht nur zwischen den Mitgliedern der Regierung, sondern vor allem im Parlament und in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Meinem Eindruck nach haben viele Deutsche noch nicht wirklich verstanden, daß die kontroverse Debatte zum Wesenskern der Demokratie gehört. Manche Journalisten kommentieren und bewerten eine Meinungsverschiedenheit zwischen Politikern derselben Partei oder derselben Regierungskoalition genüßlich als verächtliches Signal der Schwäche. In Wahrheit ist viel wichtiger, ob am Ende eine zweckmäßige Entscheidung zustande kommt.
    Je mehr ein Politiker sich »gesinnungsethisch« von einer vorab fixierten Theorie oder Ideologie leiten läßt, je mehr er bei einer Entscheidung dem Machtinteresse seiner Partei folgt, je weniger er im Einzelfall alle erkennbaren Faktoren abwägt, desto größer ist die Gefahr von Irrtümern, von Fehlern und Fehlschlägen. In jedem Fall trifft ihn die Verantwortung für die Folgen – und oft genug kann die Verantwortung durchaus bedrückend sein. Eine gute Absicht oder eine lautere Gesinnung allein kann ihn von seiner Verantwortung nicht entlasten. Also muß der Politiker seine Vernunft anstrengen, um sein Handeln und dessen Folgen vor seinem Gewissen verantworten zu können. Deshalb empfinde ich Max Webers Plädoyer für die Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik noch immer als gültig.
    Andererseits wissen wir, daß viele aufgrund ihrer Gesinnung in die Politik gehen, nicht aus Vernunftgründen. Wir müssen ebenso einräumen, daß manche innenpolitische und ebenso manche außenpolitische Entscheidung der Gesinnung entspringt und nicht der rationalen Abwägung. Und wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß ein großer Teil der wählenden Bürger und Bürgerinnen ihre Wahlentscheidung vornehmlich aus Gesinnung trifft oder aus einer vorübergehenden Gefühlsregung. Um so stärker betone ich seit Jahrzehnten in Wort und Schrift die grundlegende Bedeutung der beiden wichtigsten Elemente politischer Entscheidung: Vernunft und Gewissen.
    So einfach, wie dieses Fazit sich anhört, so einfach ist es in der demokratischen Wirklichkeit nicht. Denn es ist in einer demokratisch verfaßten Staatsordnung die Ausnahme, daß ein einzelner allein eine politische Entscheidung trifft. In den meisten Fällen entscheidet eine Mehrheit von Personen. Dies gilt ohne Ausnahme für jegliche Gesetzgebung. Damit im Parlament eine Gesetzgebungsmehrheit zustande kommt, müssen mehrere hundert Personen sich auf einen gemeinsamen Text einigen. Auch eine relativ unwichtige Materie kann infolgedessen höchst kompliziert werden; in solchen Fällen verläßt man sich gern auf anerkannte Experten oder auf die Führungspersonen der eigenen Fraktion. Es gibt aber viele Fälle, zumal bei wichtigen Entscheidungen, wo dieser oder jener Abgeordnete in einem oder in mehreren Punkten eine andere, wohlbegründete Meinung hat; um ihm die Zustimmung zu ermöglichen, muß man ihm entgegenkommen. Mit einem anderen Wort: Jede demokratische Entscheidung setzt den Willen und die Fähigkeit zum Kompromiß voraus.
    Das gilt für eine parlamentarische Demokratie in höherem Maße als für eine Präsidialdemokratie. In den USA oder auch in Frankreich hat der Präsident häufiger als bei uns der Bundeskanzler weitreichende Entscheidungen als einzelner zu treffen. Trotz seiner im Grundgesetz festgeschriebenen Richtlinienbefugnis ist der Kanzler von Mehrheiten abhängig, die sich in der Regel einem Kompromiß innerhalb seiner Regierungskoalition verdanken. Ohne Kompromisse kann der Konsens einer Mehrheit nicht erreicht werden. Das Prinzip des Kompromisses gehört zum Wesenskern der parlamentarischen Demokratie. Wer zum Kompromiß prinzipiell nicht fähig oder nicht bereit ist, ist als Demokrat nicht zu gebrauchen.
    Jeder Kompromiß unterliegt dem Gesetz des do ut des; deshalb muß ein Demokrat oft einen Verlust an Stringenz und Konsequenz seines politischen Handelns in Kauf nehmen. Allerdings lernt er dies häufig erst im Parlament, während er vor seiner Wahl vielleicht noch an seine eigene Kompromißlosigkeit geglaubt und sie sogar als Tugend mißverstanden hat. Leider sprechen manche Außenstehende bisweilen von einem »Kuhhandel« oder auch von einem »faulen« Kompromiß. Besonders häufig verführen die Massenmedien ihre Leser und Hörer zu solch oberflächlichem Urteil, indem sie sich zum
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