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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr
Autoren: Karen Young
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sagte Neal leise. “Nichts mehr zu machen, Exitus.”
    “Nein!” Sie griff selbst nach den Paddeln, und in diesem Augenblick erschien Jake Grissom. “Jake, hilf mir; schau dir das hier bitte an.” Während der Monitor über ihnen weiter schrillte, hob sie den Jungen leicht an und ließ Jake die Wunde sehen. Er untersuchte sie mit seiner sprichwörtlichen Ruhe, erkannte anschließend die lichtstarren Pupillen des Jungen und schüttelte den Kopf. “Lass ihn, Kate. Er ist tot.”
    “Nein!” Sie hielt die Paddel, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Elektroschocks nicht ansetzen konnte. “Nein, Jake. Er ist doch noch so jung. Er ist doch …” Dann fiel ihr auf, dass das Team, das um den Behandlungstisch herumstand, sie merkwürdig anschaute.
    “So eine Verletzung überlebt keiner, Kate. Die Kugel ist voll durch Rippen und Lungen geknallt und hat noch das Herz gestreift.”
    “Ein Wunder, dass er den Transport überstanden hat”, sagte jemand leise.
    Alles schwieg.
    Neal nahm Kate die Paddel aus der Hand. “Wunder gibt es doch nicht immer wieder”, sagte er und verstaute die Ausrüstung im Schubwagen. “Vor zehn Minuten ist uns Charlene Miller in der Kardiologie verstorben.”
    Kate lehnte den Kaffee ab, den jemand ihr anbot, als sie ein paar Minuten später aus der Damentoilette kam. Sie fühlte sich mitgenommen und furchtbar niedergeschlagen, und sie wusste, ihr Magen war völlig verkrampft und würde das Koffein zurückweisen. Sicher sah sie schrecklich aus. Entsetzlich, dass der kleine Junge gestorben war! Und dass sie es zudem noch dem Vater mitteilen musste! Mein Gott, würde das nie enden?
    Sie presste die Hände auf den Leib und setzte sich im Ärztezimmer an einen Tisch. Ihre Mutter! Sie musste sie unbedingt noch einmal anrufen, und wenn sie sie dieses Mal wieder nicht ans Telefon bekommen würde, blieb ihr noch die Möglichkeit, es bei Leo Castille zu versuchen. Leo wusste Bescheid, und falls nicht, würde sie ihn kurz rüberschicken, damit er nachsah.
    Mit zitternden Fingern tippte sie die Telefonnummer ein und ließ es sechs Mal läuten. Als Victoria Madison endlich abnahm, entrang sich Kate ein Seufzer der Erleichterung.
    “Hallo, Mutter, hier ist Kate.”
    “Kate! Das ist ja eine Überraschung! Warte mal eben … Meine Güte, ich bin beim Lesen eingenickt, das Buch war so langweilig, da bin ich wohl eingeduselt für ein …”
    “Ich weiß, es ist schon spät, aber …”
    “Oh, ich bin gern lange auf, wie du weißt. Wie geht’s dir?”
    “Eigentlich rufe ich an, um dich das zu fragen, Mutter.” Kate hielt ihre Augen geschlossen und bemühte sich, das Beben in ihrer Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Aber immer wieder tauchte Charlene Millers Bild auf. “Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?”
    “Was soll die Frage denn, Kate?” Victorias Stimme wurde eine Spur energischer und nahm ihren üblichen direkten und schnörkellosen Tonfall an. “Natürlich geht’s mir gut! Warum sollte es nicht?”
    “Amber hat mir vor einigen Tagen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie sagte, dass du in letzter Zeit schlecht ausgesehen hättest.”
    Victoria war hörbar eingeschnappt. “Ich weiß nicht, was in Amber gefahren ist, dich so zu beunruhigen!”
    “Vielleicht hat sie gemeint, dass ich mich nicht genügend um dich kümmere. Und da hat sie ja auch recht. Ich hätte längst schon mal zu dir nach Louisiana kommen sollen, Mutter. Ich habe nur …”
    “Von Boston sind es fünfzehnhundert Meilen, Kate”, unterbrach Victoria sie ungeduldig. “Und ganz nebenbei, mich braucht niemand zu verhätscheln. Du weißt genau, wie ich das verabscheue!”
    “Und ob ich das weiß.” Ihre Mutter war sehr stolz auf ihre Unabhängigkeit. Sie wohnte allein, und zwar gern. Sie brauchte Kate nicht und hielt damit nicht hinter dem Berg. “Ich glaube, wenn du mal verhätschelt werden möchtest, wird Leo das mit dem größten Vergnügen tun.”
    “Na, mit dem Verhätscheln weiß ich nicht recht, aber jedenfalls nörgelt und quengelt er oft so herum, dass ich ihn manchmal am liebsten auf eine lange Kreuzfahrt schicken möchte.”
    “Wahrscheinlich wäre er einverstanden, wenn du ihn begleiten würdest.”
    “Das ist aber ein absurder Vorschlag, Kate!”
    “War doch nur Spaß, Mutter.” Kate massierte müde ihre Stirn. Seit Jahren schon bestanden ihre Mutter und Leo darauf, dass es sich bei ihrer Beziehung ausschließlich um Freundschaft handelte, auch wenn Amber und
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