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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr
Autoren: Karen Young
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freimütig ausfragte. Sie konnte spüren, dass Lindy das Gesagte verarbeitete, dass sie das doppeldeutige Gerede der Erwachsenen gleichsam durch ein Sieb von zahllosen leeren Versprechen filterte. Wie viel sinnlose, brutale Gewalt würde dieses Kind noch mit ansehen müssen? Schon jetzt hatte man es seiner Unschuld beraubt.
    Lindys Tante eilte mit besorgtem Gesicht auf Kate zu. “Doktor, wird Charlene wieder richtig gesund?”
    “Sie muss durchhalten. Sie …”
    “Dr. Madison, bitte nach Eins. Dr. Madison!”
    Irritiert schaute Kate zum Schwesternzimmer hinüber, von wo Ricky ihr ein Zeichen gab. “Tut mir leid, Miss …
?”
    “McNeil. Gloria McNeil.”
    “Ihre Schwester ist nach oben verlegt worden”, sagte Kate. Sie war bereits an der Tür. “Sie liegt jetzt in der kardiologischen Abteilung auf der ersten Etage. Man …”
    “Kardiologische Abteilung? Aber das hieße ja, sie hätte einen Herzinfarkt! Sie hat doch nicht etwa einen Herzinfarkt gehabt?”
    “Etwas war mit ihrem Herzen, Miss McNeil, und Gott sei Dank waren unsere Herzspezialisten rechtzeitig zur Stelle.”
    “Etwas mit dem Herzen? Was soll das heißen?”
    “Ich bin keine Herzspezialistin, aber in der Kardiologie wird man es Ihnen erklären. Ihr Zustand ist ernst, Miss McNeil. Also, für die nächsten Stunden würde ich Ihnen raten, in der Nähe zu bleiben.”
    “Gütiger Himmel! Jetzt hat er sie umgebracht!”
    “Noch nicht.”
    “Dr. Madison, bitte nach Eins. Dr. Madison!” Rickys Stimme hallte eindringlich über die Lautsprecheranlage.
    “Entschuldigen Sie mich”, sagte Kate, berührte die Frau an der Hand und trat einen Schritt zurück. “Ich muss wirklich los.”
    Immer noch mitgenommen von ihrem merkwürdigen Angstanfall, hastete Kate über den Flur. Sie hätte gern einen Augenblick für sich gehabt, um sich sammeln zu können, aber Rettungssanitäter schoben bereits einen Patienten in die Behandlungskabine, die Charlene Miller gerade frei gemacht hatte. Ein Blick auf die Trage genügte und Kate sah, dass es keine Zeit zu verlieren gab; es war ein kleiner Junge.
    “Den hat’s böse erwischt, Dr. Madison.”
    Kate seufzte. Peter Wilkins, ebenfalls einer der Spitzenleute bei den Sanitätern, lag mit seiner Beurteilung selten daneben. Sie hob den blutdurchtränkten Verband an, und ein jäher Adrenalinstoß durchfuhr sie beim Anblick des sauberen Einschussloches oberhalb der Brustwarze. Mit jedem Pulsschlag quoll Blut aus der Wunde.
    “Da findet ein Zwölfjähriger die Pistole seines Vaters und muss erst mal seinen Freunden zeigen, wie sie funktioniert”, sagte Peter. “Blutdruck fünfunddreißig zu zwanzig, schwacher Puls, Schock. Im Fahrzeug habe ich ihn intubiert. Ich schaue mal nach seinem Vater. Wenn der sich nicht einkriegt, ist er Ihr nächster Patient.”
    “Hätte er wahrlich verdient”, murmelte Kelly Mareno und streifte dem Jungen die Druckmanschette über den dünnen Arm. Neben ihr schloss Celie Franks mit ernstem Gesicht ihn gerade an den Monitor an. Kaum war die Verbindung hergestellt, flachte die grüne Linie ab, und bei dem gefürchteten monotonen Geräusch blieb allen in der Notaufnahme vor Schreck fast das Herz stehen.
    “Reanimieren!”, rief Kate. Ihre Hände fuhren verzweifelt über den schmalen, blutbeschmierten Brustkorb hin zum Rücken und versuchten, die Stelle zu ertasten, wo das Geschoss ausgetreten war. Sie schloss die Augen, als ihre Finger auf die Wunde stießen, groß, furchtbar zerfetzt, tödlich.
    “Elektroschock kommt!” Jean Sharp hatte wieder geahnt, was Kate brauchen würde, und wie immer richtig reagiert.
    Kates Hände erforschten die Austrittswunde und ihre Finger berührten zerfetztes Gewebe, zerrissene Blutgefäße, Knochensplitter.
    “Wo ist das Projektil?”, fragte Kelly. Besorgnis lag in ihren über der Schutzmaske sichtbaren Augen.
    “Hat ihn glatt durchschlagen”, entgegnete Celie, und ihre großen braunen Augen schauten ernst und traurig. Erst zwei Monate zuvor war ihr Enkel bei einer Schießerei aus einem vorbeifahrenden Auto ums Leben gekommen.
    “Glatt nicht”, murmelte Kate, “aber durchschlagen schon.”
    Das Reanimationsteam stürmte geradezu in die Kabine. Es war wieder Neil Winston, der sich aber dieses Mal seine Sprüche sparte. Mit versteinertem Gesicht nahm er neben dem Kopf des Jungen Aufstellung. Kate zog ihre Hand weg und legte die Austrittswunde oben an der linken Seite frei. Über ihnen quäkte der Alarmton des Monitors.
    “Hat keinen Sinn, Kate”,
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