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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr
Autoren: Karen Young
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Personen hindurch an die Patientin heran und presste aus einer Tube ein Gel auf zwei Stellen oberhalb ihrer Brüste.
    “Vorsicht!”, fuhr Kate ihn an. “Sie hat möglicherweise Rippenfrakturen und eine Herzprellung!”
    Er verdrehte die Augen. “Was bedeutet, dass für sie Feierabend ist, wenn wir sie nicht hochkatapultieren. Und im Übrigen, wie sie aussieht, ist ihr wohl eine etwas rauere Gangart nicht fremd.”
    Kate verkniff sich eine heftige Antwort. Sie hatte im Allgemeinen nichts dagegen, wenn die Assistenzärzte ihre Witzeleien und Sprüche von sich gaben, aber mittlerweile hatte sie Bruchstücke von Charlenes Leben mitbekommen – ihr Töchterchen, die Geschichte ihrer Misshandlungen, ihre hysterische Schwester.
    “Fertig!”
    Die Paddel des Elektroschockgeräts verursachten ein scharfes Knacken und Charlenes Körper zuckte hoch, als werfe ein Kind eine Stoffpuppe in die Luft.
    Alles blickte gebannt auf den Monitor. Nichts.
    “Noch mal! Fertig!”
    Ein zweiter brutaler Stromstoß. Dann begann die grüne Linie auf dem Bildschirm zu flattern, ruckelte noch etwas und ging in eine schwache, ungleichmäßige Bewegung über. Kate stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
    Zehn Minuten später streifte sie sich die Einweghandschuhe von den Händen, warf sie in den Abfalleimer und begab sich in den Besucherraum, in dem Charlenes Schwester warten sollte. Bis auf das Kind war das Zimmer verwaist.
    Das Mädchen kauerte mit untergezogenen Beinen und schlaff herabhängenden Ärmchen auf einem Stuhl und starrte aus weit aufgerissenen blauen Augen, die viel zu groß waren für sein Gesichtchen, vor sich hin. Was war an der Kleinen nur Besonderes? Als Kate auf sie zuging, ertönte in ihrem Kopf ganz plötzlich ein tiefes Summen, welches sich nach und nach zu einem wahnwitzigen Dröhnen steigerte und alle übrigen Sinne betäubte. Grellweiße Lichter zuckten, Bildfetzen, Filmausschnitten gleich, tauchten auf, verschwanden wieder, zu rasch, zu unzusammenhängend, um einen Sinn zu ergeben. Wasser, stetig steigendes Wasser, Feuer, Schreie – großer Gott, was ging hier vor? Ein tiefer, düsterer Abgrund tat sich zu ihren Füßen auf. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Von Schwindel erfasst und nahezu ohnmächtig, streckte Kate Halt suchend die Hände aus, und sie ergriffen die Kante des Stuhls neben der kleinen Lindy Miller.
    Der Stuhl fühlte sich beruhigend solide an. Kate war sich der Gegenwart des Kindes bewusst und bemühte sich verzweifelt, ihren Panikanfall zu überwinden. Keuchend wartete sie ab, bis der Tumult in ihrem Inneren verebbte, versuchte, sich Techniken zu vergegenwärtigen, die sie Patienten bei Angstzuständen empfohlen hatte. Einatmen … ausatmen … ein … aus …
    “Stirbt meine Mami?”
    Sie hörte die Frage des Kindes wie durch ein Schallrohr. Mit beiden Händen fuhr sie sich über das Gesicht, atmete tief durch und sah das Mädchen an.
    “Muss meine Mami sterben? Ich will das wissen!”
    “Alles in Ordnung, Dr. Madison?”
    Kate schaute auf und erblickte Jean Sharpe, die sie eingehend musterte. Kate umklammerte ihr Stethoskop, und das vertraute Gefühl des Gerätes brachte sie wieder ins Gleichgewicht. “Ja. Danke, Jean.”
    “Na dann …” Der scharfe Blick der Krankenschwester drückte vagen Zweifel aus.
    Kate nahm auf ihrem Stuhl eine gerade Haltung ein. “Wollten Sie etwas von mir?”
    “Nein.” Jean warf dem Kind einen missbilligenden Blick zu, ihre Lippen ein schmaler Strich. “Wo ist denn die Tante?”
    “Weiß ich nicht genau. Aber ich bleibe eine Weile hier bei Lindy sitzen.”
    Jean zögerte, nickte dann und entfernte sich schließlich.
    “Wo ist deine Tante denn, Lindy?”
    “Auf die Toilette gegangen.” Lindy sah Kate mit ernstem Gesicht an. “Dieses Mal hat er ihr ganz böse wehgetan, stimmt’s?”
    Dieses Mal? Empörung stieg in Kate auf und verdrängte fast die immer noch spürbare Wirkung ihrer sonderbaren Panikattacke. “Sie ist sehr krank, aber wir sind ja hier und helfen ihr, Lindy.”
    Lindy verharrte eine Weile stumm, dann fragte sie: “Und wer bist du?”
    Kate streckte ihre Hand aus, aber das Kind machte keinerlei Anstalten, sie zu ergreifen. “Ich bin Dr. Madison.”
    “Muss sie jetzt sterben?”
    “Sie ist oben bei einem anderen Doktor. Und man macht dort all die Sachen mit ihr, die Krankenschwestern und Ärzte tun müssen, wenn sie Menschen helfen wollen. So wie deiner Mama.”
    Einen Moment lang widerstrebte es Kate, dass das Mädchen sie so
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