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Die Stimme des Wirbelwinds

Die Stimme des Wirbelwinds

Titel: Die Stimme des Wirbelwinds
Autoren: Walter Jon Williams
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    Steward schwebte unter einem Himmel in der Farbe von nassem Schiefer. Der Boden unter ihm war dunkel und nur undeutlich sichtbar. Er hatte das Gefühl, daß er sich im Gleitflug bewegte. Manchmal, wenn er zu dem trüben Dunkel unter sich absackte, wurde ihm flau im Magen. Er spürte, wie seine Nerven tanzten, wie seine Bereitschaft wuchs. Der Himmel kippte und wirbelte herum.
    Am Horizont war Feuer. Eine Kräuselung aus tiefem, pulsierendem Rot, das wie eine von einem Schrapnell bloßgelegte Arterie pochte und in einen wehenden schwarzen Mantel gehüllt war. Nicht die Sonne, erkannte Steward; etwas Brennendes …
     
    Er hatte nie Angst und war nie überrascht, wenn er aus dem Traum erwachte. Er war erfrischt, und seine Gliedmaßen waren bereit, sich zu bewegen, zu tanzen, zu kämpfen.
    Was immer es war, worauf er in diesem kalten grauen Himmel zutrieb, eins wußte er: es war etwas, das er haben wollte.
     
    Dr. Ashraf hatte ein Eckbüro hoch oben im Krankenhauskomplex, in das der strahlende Himmel Arizonas von zwei Seiten her eindrang. Etienne Njagi Steward konnte auf einer gepolsterten Couch sitzen und durch Glaswände über Flagstaff hinweg zu den Bergen hinausschauen: drei Gipfel, zerschnitten von Reihen von Spiegelglas-Wohnökologien, die das ansteigende Land, den Himmel, das Krankenhaus und das schimmernde Band des zwischen den Türmen hindurchlaufenden Highways spiegelten, der aus einer glänzenden Stahllegierung bestand. Die verspiegelten Gebäude warfen das Bild der Realität zurück, verzerrten und vervielfachten es. Machten es interessant.
    Der Raum war absolut schalldicht. Nicht einmal die Schnellbahn unter dem Krankenhaus schaffte es, mehr als eine kaum spürbare Vibration in der Glaswand des Raumes hervorzurufen. Steward konnte die Welt in den Spiegeln betrachten, aber er war isoliert von ihr; er hörte nur Ashrafs unbewegte Stimme, das Wispern der Klimaanlage und die ferne Vibration des Schnellzugs. Er fragte sich, wer er nach Ashrafs Vorstellung sein sollte.
    Ashraf saß hinter Steward an einem Schreibtisch. Steward wußte, daß sich auf Ashrafs Seite des Schreibtischs Meßgeräte befanden, die mit Monitoren in der Couch, Streßanalysatoren für Stimmen, Puls- und Atmungsmeßgeräten und vielleicht sogar mit Sensoren für Schweiß und Muskelspannung verbunden waren. Er hatte sie nicht gesehen, aber manchmal, wenn er sich zu Ashraf umdrehte, sah er die Reflektion roter LEDs in den Augen des Arztes.
    Man hatte Steward beigebracht, wie man solchen Geräten ein Schnippchen schlug. Er erinnerte sich an lange Stunden, die er in tiefer Hypnose, unter Drogen und an Biofeedback-Apparate angeschlossen verbracht hatte. Er konnte sich keinen rechten Grund denken, seine Fähigkeiten zu benutzen, also ließ er es meistens bleiben. Er setzte sie nur dann ein, wenn er von Natalie sprach, und zwar eher, um selbst ruhig zu bleiben, wie er sich einredete, als um Ashraf zu täuschen.
    Einmal erzählte er Ashraf von seinem Traum. »Vielleicht ist es eine Erinnerung an Sheol«, sagte er. »Ein Fallschirmangriff oder so etwas.«
    »Sie wissen, daß das unmöglich ist«, sagte Dr. Ashraf.
    Manchmal kam es Steward so vor, als hätte er so viele Persönlichkeiten, wie es Widerspiegelungen der Welt in den Wohnökos gab, als ob er Persönlichkeiten ausprobierte wie Masken in einem Laden, eine nach der anderen, nur um zu sehen, ob eine davon paßte. Es war klar, daß die Person, die träumte, für Dr. Ashraf unakzeptabel war.
    Steward sprach nie wieder von dem Traum.
     
    Die Krankenhauswände waren mit hellen, schmalen Farbstreifen versehen, die zu den Identifikationsfarben auf den Armbändern der Patienten paßten. Wenn sich ein Patient auf den belebten, geschrubbten Fluren verirrte, brauchte er nur den winzigen Pfeilen auf den Wandstreifen zu folgen. Sie führten ihn dann zu seiner Station, wo die Wände in seiner Farbe gestrichen waren, und wo er von dem wohlvertrauten antiseptischen Geruch und den ebenso vertrauten Krankenschwestern willkommen geheißen wurde. Die Uniformen der Krankenschwestern hatten ein Nadelstreifenmuster in der Stationsfarbe. Gelb stand für Verbrennungen, Rot für die Intensivstation, das beruhigende Blau für die Entbindungsstation. Stewards Armband trug ein freundliches Hellgrün und signalisierte, daß er in der psychologischen Abteilung zu Hause war.
    Da er körperlich völlig gesund war, erlaubten sie ihm, normale Kleidung zu tragen. Bei seinen Spaziergängen durch andere Teile des
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