Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers

Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers

Titel: Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers
Autoren: Bernhard Hoëcker
Vom Netzwerk:
sagten: «Buh!»
    Nichts passierte. Wir schauten uns an.
    Als eingespieltes Team wussten wir, was zu tun war. Wir nickten uns noch einmal kurz zu. Dann holten wir erneut tief Luft und – rannten los. Äste schlugen uns ins Gesicht, Wurzeln zerbrachen unter unseren Schritten, Laub stieb durch die Gegend, doch wir schafften es. Buchstabe gesehen, Zahl gemerkt und wieder auf den Weg, quer über die Kreuzung und rauf auf den Holzstapel. Jetzt wurde erst mal kollektiv ausgeatmet. Wir tauschten uns über die gesammelten Erfahrungen aus und wollten dann den Wert aufschreiben, den wir gefunden hatten. Wir waren sprachlos, denn wir hatten uns überraschenderweise die gleiche Zahl gemerkt und fühlten uns großartig. Dann ging es weiter.
    Nach 60 oder 70   Metern erinnerte ich mich unseres abgebrochenen Gespräches und sagte: «Weißt du, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine milde zu stimmen, und auch ohne einen Frischling als Geisel nehmen zu müssen, um freies Geleit durch den Wald zu erpressen   …»
    «Sag es einfach!»
    «Was?»
    «Sag einfach, wie wir die Angst besiegen können, ohne uns ein anderes Hobby suchen oder tagsüber cachen gehen oder Brotkrumen in den Wald werfen zu müssen, um die Wildschweine mildezu stimmen, und auch ohne einen Frischling als Geisel nehmen zu müssen, um freies Geleit durch den Wald zu erpressen.»
    «Ach so: Stöcke!»
    Diese Idee ist mir irgendwann mal am Nordseestrand gekommen, als ich, ganz, ganz, ganz weit weg von irgendwelchen Wildschweinen, auf einer Wiese gesehen habe, wie ein Vogel auf dem Boden herumgetrommelt hat. Er imitierte den Regen, und die im Boden lebenden Würmer dachten: Gleich gibt’s nasse Gänge. Um nicht zu ertrinken, krochen sie nach oben und wurden gefressen. Quasi wie wenn man vor einem argentinischem Rinderbullen steht, «Muh!» ruft und einem ein gut durchgebratenes Stück Hüfte direkt in den Mund springt.
    Da Regenwürmer quasi das Gegenteil von Wildschweinen sind, weil sie sozusagen das Komplementärtier darstellen, nahm ich an, beim Stockschlagen könnten die Tiere wegrennen, weil sie alleine sein wollten und eher der Flucht zugetan seien. Tobi verstand es leider nicht sofort, daher musste ich es ihm wohl nochmal erklären. Ich nahm einen Stock und schlug damit auf einen am Boden liegenden Baumstamm. Es gab einen durchdringenden Schlag – durch den Stock, durch meine Hand, durch meinen Arm, durch meinen ganzen Körper. Ich ließ den Stock fallen und vibrierte bestimmt noch 150   Meter lang inner- und äußerlich weiter. Als sich mein Körper wieder beruhigt hatte (wir hatten inzwischen die nächste Station gefunden und den Wert notiert), fragte ich: «Und?»
    Tobi sagte: «Toll!»
    Klar konnte er sich in so einer angespannten Situation emotional nicht völlig öffnen. Es hätte wahrscheinlich sein gesamtes chemisches Gleichgewicht im Gefühlszentrum einschließlich des Hypothalamus durcheinandergebracht. Aber ein wenig mehr hatte ich schon erwartet. Hatte er es vielleicht immer noch nicht verstanden?
    «Also, wir schlagen gegen die Bäume, die Tiere hören uns und hauen ab, weil sie Fluchttiere sind und alleine sein wollen», setzte ich zu einer Erklärung an.
    «Wenndemeins.»
    Gewohnt, Verantwortung auch schon mal gegen den Willen der Betroffenen zu übernehmen, interpretierte ich das als eine zustimmende Äußerung und machte munter weiter. Nach einer Weile lernte ich die guten von den bösen Baumstämmen zu unterscheiden, also die festen von den losen, die den Schlag als Vibration an den Stock zurückgaben. Dann wurde es zwar laut, aber für mich nicht ganz so unangenehm. So kamen wir zu Station 4 – wieder eine Kreuzung. Wieder ein Reflektor tief im Wald. Dank meines Ich-schlage-gegen-Bäume-und-vertreibe-alle-wilden-Tiere-Tricks war es natürlich kein Problem, den Weg frei zu machen. Ich trat an den Wegesrand und schlug erneut gegen irgendwas. Der Lärm von fliehenden Tieren ließ uns das Blut in den Adern gefrieren. Wir duckten uns ob der Gefahr, in der wir uns befanden, und ich riss Tobi zu Boden. Die Verletzungen, die er sich dabei zuzog, halten dem Vergleich mit jedem Kriegsversehrten stand, und er wird sie sicher auch seinen Kindern und Kindeskindern zeigen, die sie wiederum ihren Kindern und Kindeskindern auf den selbstverständlich sofort angefertigten Beweisaufnahmen präsentieren können.
    Nachdem sich die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher