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Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers

Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers

Titel: Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers
Autoren: Bernhard Hoëcker
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mutiert, die Steilwand hinunter.
    Vor sehr kurzer Zeit hatten hier, direkt neben dem Steilhang, im lichten Tannenwald Menschen, ich neige sogar dazu, zu sagen: Jugendliche, gelagert. Falls hier ein Cache gelegen hätte, sie hätten ihn garantiert gefunden und vernichtet. Bäume waren abgeschlagen und daraus ein zwei Etagen hohes Doppelbett gebaut worden. Die Kohle auf der Feuerstelle war noch frisch, die übrig gebliebenen Würstchen haben Tobi gut geschmeckt.
    Wir waren völlig niedergeschlagen. Da hatten wir uns mal wieder einen Weg durch unwegsames Gelände gebahnt, und dann kamen wir an einen Ort, der für Waldverhältnisse zu den dichtbesiedeltsten Gegenden Deutschlands gehört. Der Petersplatz in Rom bei der Papstwahl war dagegen sicher eine wüste, einsame Öde. Wir setzten uns an das erkaltete Lagerfeuer. Schweigend. Plötzlich hatte Tobi eine Eingebung: Es könnte doch sein, dass der eine Wert, den wir errechnet hatten, falsch war. Um es kurz zu machen: 79 Statt 100 wären es 200   Meter in die entsprechende Richtung gewesen.
    Wir packten unsere Sachen. Tobi kaute zu Ende, und es ging wieder los, weitere 100   Meter durch den Wald. Den Steinbruch hatten wir hinter uns, einen Weg gekreuzt, jetzt nur noch 14   Meter querfeldein, und schon würden wir fündig werden. Wir gingen zu einem kleinen Bach, über den wir springen mussten. Die zwei oder drei Meter waren sicher kein Problem, und auf der anderen Seite wartete weicher Waldboden. Ein kleiner, in den Bach ragender Ast würde als Sprungbrett genügen, um die nötigen Zentimeter zu gewinnen, die uns vielleicht fehlten. Ich nahm Anlauf, peilte den kleinen Ast an, sprang ab und landete auf der anderen Seite. Noch während ich voller Stolz dachte: «Yeah! Das war cool, ich hab’s echt drauf», begann mein rechter Fuß im Morast zu versinken. Rasch verlagerte ich das Gewicht, um den Schuh wieder herauszubekommen, aber mehr, als dass die andere Seite meines Körpers ebenfalls durch undurchdringliches feuchtes Erdreich dem Erdmittelpunkt entgegenstrebte, passierte nicht.
    Ich wollte mich gerade umdrehen, um Tobi ein warnendes «NEIN!» entgegenzurufen, da war er auch schon in der Luft. Er würde mich voll umrennen, ich würde mit dem ganzen Körper auf dem Boden liegen, und wenn ich das Bewusstsein verlor, würde es mir wie ein Segen erscheinen. Aber damit hatte ich nicht gerechnet: Während mir die paar Zentimeter einen praktischen, wenn auch unnötigen Streckengewinn erbracht hatten, war das für ihn völlig egal. Er ist zwar größer als ich, war vielleicht auch mal gejoggt, als das Ganze noch Dauerlauf hieß, hat aber einfach viel mehr Angst vor Wasser. Während der Flugphase muss er allerdings bemerkt haben, dass er außerdem Höhenangst hat. Entsetzt stellte er fest, dass er sich ganze 35   Zentimeter über der Erdoberfläche befand, brach mitten im Flug seine parabelförmige Bewegung ab, stürzte der Erde entgegen, konnte sich gerade noch mit beiden Füßen, den Händen und dem Kopfund allem anderen, was man so hat, auf dem Bachgrund abstützen, stolperte an mir vorbei, verschwand kurzzeitig bis zu den Knien, dann etwas länger komplett vom Erdboden, um zehn Meter weiter mit einem lauten «Uahhhhh!» aus dem Morast aufzutauchen und auf festem Boden zum Stehen zu kommen. Hechelnd feierte er seinen zweiten Geburtstag, fiel weinend vor Freude auf die Knie und fing an, die umstehenden Pflanzen anzubeten.
    Ich versank derweil Stück für Stück weiter im Boden. Als die Bilder meines Lebens wie in einem Film vor meinem geistigen Auge vorüberzogen, bemerkte er meine missliche Lage und rettete mich heldenhaft. Er rief: «Dort isses trocken, hier, meine Hand.» Ohne ihn hätte ich das nie geschafft. Dank seines leicht verzögerten Eingreifens konnte ich wenigstens noch den Vorspann zum Film meines Lebens sehen und erkennen, wer dort eine wichtige Rolle spielte. Tobi war übrigens nicht dabei.
    Wir ließen uns von solch simplen Problemen nicht abhalten, sondern suchten eifrig weiter, wenngleich, wie nicht anders zu erwarten, ohne Erfolg. Sofort war klar: In einer solchen Umgebung KONNTE der Cache gar nicht liegen, ohne nach spätestens fünf Minuten abzusinken, um kurz darauf zu einem Stück Braunkohle zu werden.
    Wir nahmen einen Umweg in Kauf, um wieder zurück zum Auto zu gelangen. Gedemütigt, das Gesicht dem Boden entgegengewandt, schlichen wir wie zwei geprügelte Hunde dahin. Noch einmal vorbei am Steinbruch und an der Lagerstätte der Jugendlichen. Wir
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