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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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sein? Wie BE gleich FD? Dass Gott zu Beginn Himmel und Erde schuf, das Feste vom Flüssigen, das Dunkle vom Hellen trennte, war mit Händen zu greifen, jedenfalls wurden die Folgen göttlicher Schöpferkraft jedermann Tag für Tag vor Augen geführt. Die Sonne ging auf und unter, es wurde Licht wie seit Menschengedenken und davor, und es gab, was da kreucht und fleucht wie am dritten alttestamentlichen Tag. Wo aber irgendwo in der Welt von Dondorf über Großenfeld, Langenhusen, Köln; von Düsseldorf bis Ploons oder Möhlerath hatte ich jemals eine Mittelsenkrechte gesehen? Eine Winkelhalbierende? Einen Inkreis? Wo die Diagonale eines Rhombus? Eine vierte Proportionale? Wo war ich jemals einer Tangente begegnet? Ich sah das arme Tier mit den Algen im Parkteich kämpfen, erliegen und geriet über einem »freien Schenkel« ins Grübeln. Dennoch: Ich tat, was ich konnte, Schritt zu halten mit dem Durchschnitt, was mir mehr schlecht als recht gelang. Fürs erste Zeugnis reichte es sogar
für eine Drei. Und in Physik gab es meine erste und letzte Zwei. Meyer, im Physikunterricht berühmt für temperamentvolle Vorführungen, die oftmals eher Zirkusvorstellungen glichen als wissenschaftlichen Experimenten, hatte sich, hingerissen von seiner Ankündigung der dramatischen Folgen eines Blitzschlags, den er mit Hilfe zweier Drähte auszulösen gedachte, selbst in den Stromkreis geschlossen. Ich zog den Stecker. Meyer, blau bis in die Lippen, stammelte etwas von ewig dankbar sein und blieb es auch. Unter eine Drei sank ich nie.
    Doch noch regierten Hammer und Nagel, und Clas, der aussah, als habe er auch im wirklichen Leben keine Mühe damit, warf seine schlaksige Gestalt vom Stuhl und klopfte den Nagelkopf mit fünfhundert Watt an die Tafel.
    Mit einem enttäuschten, bedauernden »Ts, ts, ts« entließ mich Meyer an meinen Platz. Nur zu gut klangen mir diese vorderzähnigen Vorwurfslaute, Verwerfungslaute noch in den Ohren. »Ts, ts, ts«, hatte sich Frau Wachtel mir über die Schulter gebeugt und meine auf den Tasten herumirrenden Fingerkuppen beschnalzt. Hier wie dort zog ich den Kopf ein, senkte ihn tief, noch tiefer auf die Brust, hätte mich am liebsten selbst in mich selbst versenkt. Ts, ts, ts. Gewogen und für zu leicht befunden. Der Mathematiklehrer sah mich aus schwimmenden Augen an. Petra Leonis? Stein des Löwen? Nichts mehr von Symbolen für Unsterblichkeit und Sieg. Den Sieg davon trugen die unsterblichen Zahlen und Fakten.

    Der Pausengong erlöste mich von einem dritten Anlauf, stellte mich aber vor die nächste Prüfung: Ich war die Neue.
    Offenbar war mir ein Gerücht außerordentlicher Befähigung vorausgeeilt. In der Lateinstunde hatte ich das Gerücht bestätigt, in der Mathestunde widerlegt. Was für eine war das denn nun?
    Draußen hatte sich der Nebel kaum gelichtet, und nur eine dünne Spur vom Backstein-Hauptgebäude, dem Franz-Ambach-Gymnasium, zur Wilhelm-von-Humboldt-Baracke war gestreut. Wir hatten die Erlaubnis, drinnen zu bleiben. Trotzdem: Ich musste hier raus. Frische Luft. Auch Monika schob den Stuhl zurück. Sekundenlang starrten die anderen sie an, mir schien, beinah hätte sie sich wieder gesetzt, aber da machte sie auch schon die Tür hinter uns beiden zu und schlüpfte in einen Mantel, lang und auf Taille, mit einem schwarzen Fellkragen, den sie hochschlug wie Greta Garbo. Da stand ich in Hannis Wintermantel, musste den Gürtel festzurren, die Stoffbahnen hochziehen und verstauen, bis meine Seehundstiefel wieder zum Vorschein kamen, und hätte mich am liebsten unter meinem Tisch verkrochen. Monika putzte sich derweil bemüht umständlich die Nase.
    »Mach dir nichts aus Meyerlein.« Monika hakte mich unter, und wir stelzten ein paar Schritte durch den seit Tagen gefrorenen Schnee, der unter unseren Schritten knirschend barst. »Er war eben bei den Russen und ist erst als einer der Letzten rausgekommen. Herzkrank auch. Kriegt bei der kleinsten Aufregung blaue Lippen. Ich glaube, er war enttäuschter als du. Hast du wirklich nichts verstanden?«
    »Nichts!«
    »Aber Latein! Da bist du doch so gut! Sellmer sagt immer: ›Abstraktes Denken ist überall dasselbe. Wer Latein kann, kapiert auch Sinus und Cosinus.‹«
    »Ich nicht«, antwortete ich und hackte mit der Stiefelspitze in die Schneedecke. »Ich kapier nichts, was nicht mit Wörtern zu tun hat. Dieser Mischmasch aus Wort und Zahl ist mir zuwider. Geht nicht in meinen Kopf.«
    »Naja«, beruhigte mich Monika, »ist ja heute der erste
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