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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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widerliche Mischung aus Zahlen und Wörtern, in denen die Zahlen von vornherein die Oberhand hatten und auch behalten mussten, kickte mich wieder mal auf die Matte. Mein wisperndes Gegenüber indes schob den Pulloverärmel in die Höhe, ein blasses, dicht und dunkel behaartes Handgelenk enthüllend, und quietschte in null Komma nix die Lösungen an die Tafel, dabei Zeichen verwendend, die ich noch nie gesehen hatte.
    Doch Meyerlein, wie er allgemein genannt wurde, ließ so schnell nicht locker. Wie wir wüssten, sei er in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Nichts sehnlicher als einen Hammer hätten sie sich damals gewünscht in dem elenden Unterstand, einen Hammer und Nägel, Holz sei ja genug dagewesen, wenn man es nur hätte nutzen können. Ach, einen Hammer und Nägel. Die eisige Tundra, der Hunger, die Knochenarbeit, Meyerlein kam in Fahrt, und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass der Gong mich erlösen möge von allem Übel, all den perfiden mathematischen Folgeerscheinungen, die Hammer und Nägel unweigerlich mit sich bringen würden. Und da waren sie auch schon:
    »Energie!«, rief Meyerlein. »Energie war, was uns fehlte. Nix zu essen im Bauch. Kalt wie Hund. Aber wie Schlittenhund, haha. Und alles mit bisschen Energie zu beseitigen.«
    »Kniebeugen«, brummte es neben mir. Aber Meyerlein hatte spitze Ohren. »Kniebeugen! Jawohl. Reife Leistung! Und was ist das: Leistung?«
    »Leistung, äh. Wenn ich etwas tue. Äh. Etwas leiste eben.«
    »Gib’s auf, gib’s auf, Pütz.« Meyerlein winkte ab. Heinz Pütz,
ein zarter, zappliger Junge, kaum größer als ich, machte sich noch schmaler und zog den Kopf ein.
    »Beschränken Sie sich auf Ihre Kniebeugen. Also: Was ist Leistung? Wer hat noch nicht, wer … Ja, Fräulein Schuhmacher?«
    Anke, alles war lang und dünn an ihr, von den aschblonden Haaren über die Nase bis zu Kinn und Mund, setzte sich aufrecht und rasselte eine Formel herunter, Leistung schnappte ich auf, Quotient und Zeitintervall.
    Bescheiden, den Kopf gesenkt, sackte Anke wieder zusammen, als schäme sie sich ihrer Leistung über die Leistung.
    »Fräulein Palm! Ein neues Spiel, ein neues Glück. Also, wenn ich bitten darf.« Meyer machte eine einladende Geste zur Tafel hin. »Aufgepasst!«
    Ein unmerklicher Ruck ging durch die Klasse. »Welche Kraft wirkt auf einen Nagelkopf beim Aufschlag eines Hammers mit der Masse ist gleich ein Kilogramm, wenn man annimmt, dass der Hammer in 0,001 Sekunden bei einer Geschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde zur Ruhe kommt?«
    Verständnisloses, empörtes Raunen.
    »Noch mal. Zum Mitschreiben.« Der Lehrer wiederholte die Aufgabe, unterstrich jedes Wort mit ausdrucksvollen Bewegungen beider Hände, formte Bögen, die Anfang und Ende genau aufeinanderlegten, dergestalt die unbezweifelbare Exaktheit mathematischer Vorgänge optisch verifizierend.
    Ich beeilte mich nachzukommen, und dann hatte ich es weiß auf schwarz und armer Tor und war so klug als wie zuvor. Was blieb mir übrig? Mein Gedächtnis. Bis zum Wort Hammer konnte ich der Frage folgen. Die Kraft des Dreinschlagenden, die Kraft der Hand, des Muskelspiels trifft auf den Nagelkopf, wenn er ihn dann trifft, gar nicht auszudenken, wenn er danebenhaut mit aller Kraft, nicht auf den Nagelkopf, sondern den Daumenkopf … wo die meisten Nerven, oje, wenn der Hammer da zur Ruhe kommt, dann ist es aus mit der Ruhe, in Sekunden erfolgt dann der Aufschlag des Hammers in der Ecke.

    Von einer Ecke aber war in der Aufgabe nicht die Rede, weg mit den Wörtern und her mit den Zahlen, die sich einzelner Buchstaben bemächtigt hatten, des K, des W und des N, ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Und traurig war ich auch.
    Meine Niederlage vom rücktrittbremsenden Radfahrer wiederholte sich beim Aufschlag des Hammers auf den Nagelkopf. Mathematik, Physik, Chemie entzogen sich Wundern und Gebeten, entzogen sich Kerzen und hochheiligen Opferversprechungen. Und dabei blieb es. Daran konnte auch Meyerlein, so leid es ihm tat, nichts ändern.
     
    In der Mathematik gab es kein Vielleicht, kein Wenn-und-aber, kein Sowohl-als-auch, nur wenn und dann, wenn dann. Keine Zweideutigkeiten, von Mehrdeutigkeiten ganz zu schweigen. Diese Schlichtheit des Ja-Nein jedoch tarnte sich mit den absonderlichsten Behauptungen, die jedes gesunden Menschenverstandes spotteten und ohne die das ganze Ja-nein-Konstrukt in sich zusammenbrach. Warum sollte a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat sein? Wie konnte DF gleich EB
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