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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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Fläschchen Underberg und einer Flasche Schnaps versenkt hatte. Kurz nach Beginn meines ersten Schuljahrs auf der Realschule war der Großvater gestorben.
    Vorbei an Rathaus und Gänsemännchenbrunnen ging ich die Dorfstraße hinauf. In den Vorgärten krümmten sich schwarzgefrorene Stauden. Nadelnde Tannenbäume, im ärmlichen Schmuck vergessener Lamettafäden, warteten auf die Müllabfuhr. Dreikönigstag war vorüber; unser Baum schon zu Brennholz zerhackt. Die Straße lag winterstill, der Asphalt hie und da gerissen vom Frost. Nur ein paar Frauen, vermummt in Mützen, Schals und Tücher, huschten aus Metzger- und Bäckerläden nach Hause. Morgen, hätte ich ihnen am liebsten entgegengeschrien, geht das Leben weiter, vorbei die Zeit von Debit und Kredit, vorbei die Ohnmacht des Industriekaufmannsgehilfenlehrlings Hilla Palm vor Stenographie und Schreibmaschine, die Kapitulation vor Soll und Haben. Ich fühlte mich leicht, frei, freigekämpft. Industriekaufmannsgehilfenlehrling - welch ein Ungetüm von Wort, genau passend für das, was sich dahinter verborgen hatte; die bösartige Herrschaft meiner Lehrherrin, die schweißlauen Finger des Prokuristen, meine Flucht in den Alkohol.

    Mehr als einen Stein hatte ich für alle gefunden, die mir das Leben schwergemacht hatten, und auch mein Underberg-Gesicht lag auf dem Grunde des Rheins. Für immer. Das hatte ich Rosenbaum geschworen. Und mir.
    Rosenbaum, Biologielehrer an der Realschule. Einer meiner Schutzengel. Wie Pastor Kreuzkamp, der mich mit meiner Liebe zum schwarzen Fritz, einer Negerpuppe, vor Eltern und Großmutter in Schutz genommen hatte. Wie die Kinderschwester Aniana, die nicht müde geworden war, der Mutter von meinem reinen Herzen zu erzählen. Wie Lehrer Mohren mit seinem »Steh auf«, als ich nicht aufstand mit denen, die auf Gymnasien und Realschule gehen wollten. Und Friedel, die mir siebzehn alte Brockhausbände geschenkt hatte. Sie alle hatten bei mir einen Stein auf dem Brett, hinter den Büchern versteckt; auf dem Regal in meiner Zuflucht, dem Holzstall, meinem eigenen Reich. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bücherbrett.
    Dem I-Dötzchen Hildegard hatte der Großvater einen Stein geschenkt, darauf mit goldenen Lettern ihr Name. Genauso hatte ich jedem meiner Schutzengel ein Denkmal auf Stein geschrieben.
    Der Schindertum lag schon hinter mir, vor mir der Turm der Georgskirche, ein gedrungenes Rechteck, nach dem Krieg nicht wieder zu schlanker Höhe aufgebaut. Kreuzkamp, Mohren, Rosenbaum: Ohne sie liefe ich heute nicht hier durch die Straßen, säße vielmehr bei Steno und Schreibmaschine in einem vollgequalmten Büro. Gemeinsam waren der Pastor und die beiden Lehrer - wie die Heiligen Drei Könige, hatte der Bruder gespottet - in der Altstraße aufgetaucht. Ihrer Übermacht war der Vater, war sein Nein zum Gymnasium für ein Mädchen, nicht gewachsen. Wie verloren hatte er am Ende den dreien gegenübergesessen.
    Mit kurzen, schnellen Schritten kam ich rasch vorwärts, die Eisen, vom Vater unter die Sohlen geschlagen, klapperten wie aufgeregte Ponyhufe auf das steinerne Pflaster. Ganz so war ich vor Jahren an einem eisigen Tag wie diesem an den Rhein
gerannt, Sigismund entgegen. Eisschollen knirschten, als wir im ersten Kuss zusammenfroren. Sommermöwen kreischten, als ich sein Gesicht mit den kleinen roten Ohren in unzähligen Wutsteinen versenkte. Die Tochter des Fabrikbesitzers Maternus, für den ich in den Schulferien Pillen packte, passte wohl besser zum Sohn des höheren Angestellten als die Tochter vom Hilfsarbeiter Palm.
    Nie wieder verliebt, hatte ich mir damals geschworen, froh, »mein Kapital«, wie Mutter, Tante und Cousinen den Zustand jungfräulicher Unversehrtheit nannten, nicht an einen Unwürdigen verschleudert zu haben. »Dat is ding Kapital« - und das sollte es auch bleiben. »Mir han nix zu verschenke.«
    Vom Kirchturm schlug es zweimal. Halb drei, die Sonne sank früh. Über Feldern und Wiesen lag dünngestäubter Schnee, feine glitzernde Flocken, das Eis in den Pfützen zersprungen. Kaum Wind strich durch Pappeln und Weiden, die harten Zweige standen starr, grau wie Schotter das Schilf. Still war es, still. Wie ein entferntes Echo knackte der Frost im Schilf. Und dann lag sie endlich vor mir, die dunkel funkelnde Wasserbahn, mein Wassermann: Sorgenschlucker, Trauertröster, Wutverschlinger, mein treuer Vagabund, mein verlässlicher Stromer, mein Rhein.
    In meiner Manteltasche war es warm zwischen Hand und Stein, als führte der
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