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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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hieß bei den Römern butyrum«, erklärte ich unbeirrt, »hört sich doch ganz so an wie Botteramm. Und Käse hatten die auch schon, caseus.«
    Als sei ihr ein Geschenk in den Schoß gefallen, breitete sich ein scheues, ungläubiges Lächeln auf dem Gesicht der Tante aus, das ihren derben Zügen eine mädchenhafte Anmut verlieh; so mochte sie als Schulkind ausgesehen haben, wenn der Lehrer sie lobte.
    »Salat!«, sagte sie versöhnlich. »Spinat. Muskat. Prummetat. 19 «
    Bertram holte schon Luft, ein Rippenstoß brachte ihn zum Schweigen.

    »Tante«, sagte ich, »du haset im kleinen Finger! Pflaume, da sagten die Römer prunum.«
    Geschmeichelt blies die Tante die Backen auf.
    »Fehlt nur noch de Höppekrat 20 !«, kicherte Hanni.
    »Kokolores!«, wies die Tante die Tochter zurecht. »Maria, mach uns ens en Buttürum met Kaseus!«
     
    Kurz darauf steckte mir die Tante einen Zettel zu. »Automat«, las ich, »Monat, Prälat, Ornat, Muskat, Diktat, Kitekat.«
    »Und der Zettel hier is vom Hanni. Hat et extra für disch abjeschrieben, aus dä Zeitung. Von wat Ausjejrabenem.«
    »DA.T.I.SNEP.ISPO.T.USCO.L.O.NIA.«

    Meinem Punktsieg in Latein folgte gleich am ersten Schultag ein K.o. in Mathematik. Meyer, so der harmlos tuende Name des Zahlengelehrten, war klein und rund, und jeder Geste, ja, noch dem Lidschlag der hellen, spähenden Augen in seinem kupferroten Gesicht, haftete etwas Lautes, Polterndes an. Ein vorstehender Bauch, jäh aufwärtsstrebend, ließ die Knöpfe der Weste sommers wie winters breit hervortreten und zeugte von prächtigen Siegen über Braten, Kuchen und Bier. Im Profil hatte sein Kopf die Umrisse eines Quadrats.
    Händereibend spazierte Meyer vor der Tafel auf und ab und fragte, wer denn ein Fahrrad besitze. Alle Finger gingen in die Höhe. Wann sie zuletzt damit gefahren seien, rief er Clas und Achim auf, die sich, um Zeit zu schinden, gespielt mühsam zu erinnern suchten. Ob die Fahrräder eine Rücktrittbremse hätten, wollte er dann wissen, und wieder bejahten wir.

    »Dann sind Sie wohl auch schon alle einmal einen Berg hinaufgefahren und wieder hinunter.«
    Zustimmendes Gemurmel. »Nun, dann wollen wir mal.« Meyer straffte sich. Offenbar gewillt, den pädagogischen Triumph, den Sellmer im Lehrerzimmer verkündet haben mochte, zu übertrumpfen, bestellte er mich an die Tafel und drückte mir ein Stück Kreide in die Hand. »Ein Radfahrer durchfährt einen Höhenunterschied von dreihundert Metern mit Rücktrittbremse. Sein Gewicht einschließlich Rad beträgt neunzig Kilo.«
    Der Lehrer machte eine Pause. Sah mich an.
    »Dreihundert, neunzig«, murmelte ich. »Radfahrer durchfährt, kein gutes Deutsch, sollte ›durchquert‹ heißen, auch nicht gut, besser: Ein Radler durchfährt, ja, dann ist die Wiederholung weg.«
    »Nun, Fräulein Palm«, unterbrach der Mathematiklehrer meine Korrekturbestrebungen, »darum geht es hier nicht. Ich komme nun zu meiner Frage: a) Welche Wärmemenge entsteht in der Rücktrittbremse? b) Wie heiß wird diese bei einer Masse von achthundert Gramm Stahl und fünfzig Prozent Wärmeabgabe?«
    Eingeschüchtertes Schweigen im Zimmer.
    »Ich gebe eine Hilfestellung.« Meyer nahm mir die Kreide aus der feuchten Hand und haute eine Formel an die Tafel.
    Schlimmer hätte es nicht kommen können. Ich hörte die Wörter, am Satzbau war nichts zu bemängeln, der Radfahrer ist ein Radfahrer ist ein Radfahrer, wusste doch jedes Kind, was der tut, Rad fahren, Höhenunterschiede durchfahren und die Rücktrittbremse bedienen.
    Ich spürte, wie mir eine beträchtliche Wärmemenge in die Wangen stieg, hätte gern mehr als fünfzig Prozent Wärme abgegeben; heißer als meine durchdrehende Gehirnmasse konnte die Masse von achthundert Gramm Stahl gar nicht werden, ich stierte auf die »Hilfestellung« an der Tafel, mechanisch ergriff ich die Kreide, die Meyer mir auffordernd entgegenstreckte.
    Schon wurde rechnendes Gemurmel laut, ich spitzte die Ohren, Armbruster am Ende des Hufeisens murmelte betont
vernehmlich: »Dreihundert mal neunzig«, und ich beeilte mich, das Aufgeschnappte zu fixieren, sogar das Ergebnis kriegte ich noch hin. Was es aber damit auf sich hatte, was die Zahlen bedeuteten und wie es weitergehen sollte, konnte ich dem hilfsbereiten Zischeln des Klassenkameraden nicht entnehmen.
    Verzweifelt flehten meine Blicke, und Meyer, weit davon entfernt, sich an meiner Unfähigkeit zu weiden, schickte mich betrübt auf meinen Platz. Wunderkind hatte versagt. Die
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