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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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Klassenkameraden die hanebüchene Geschichte von den Tieren mit stumpfen Hörnern und ohne Gelenkknöchel zu Gehör. Daher, so Caesar, schliefen die Tiere im Stehen, an Bäume gelehnt, und würden gefangen, indem Jäger diese Schlafbäume an den Wurzeln untergrüben oder so weit anschnitten, dass die Tiere, lehnten sie sich dagegen, mitsamt dem Baum umkippten, wehrlose Beute.
    Von Satz zu Satz war das Raunen lauter geworden. Monika kicherte.
    »Tace!«, gebot Sellmer Ruhe. »Discipuli«, wandte er sich an alle, »was haltet ihr davon?«
    »Insanum est!« 11 Armbruster, pardon, Pauperpectus, warf den Kopf in den Nacken.
    »Caesar insanus non est«, 12 widersprach Pius.
    »Sermone nativo utere!«, 13 befahl Sellmer schmunzelnd. »Oder auch: sermone patrio. 14 Sprechen Sie, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, discipule Pauperpectus!«
    »Völlig irre Übersetzung«, hielt der nicht hinterm Berg. »So etwas schreibt doch kein Caesar!«
    Die Klasse murmelte Zustimmung. Ich lehnte mich zurück. Genau so hatte mir Bertram die Reaktion in seiner Klasse geschildert.
    »Discipula Leonis?«, wandte sich Sellmer an mich.
    »Totum emendatum est!«, beharrte ich. »Alles richtig.«
    »Nun, dann wollen wir mal sehen.«
    Geduldig ließ der Lehrer nun Wort für Wort übersetzen. Und es stellte sich heraus, was ich wusste: Ich hatte den Text etwas blumig, aber durchaus emendatus, in der Sache richtig, wiedergegeben.
Schon mit Bertram hatte ich die Geschichte hin und her gewendet. War Caesar beim Met von einem germanischen Spaßvogel auf den Arm genommen worden? Oder hatte der Feldherr mit seinem Bericht den eigenen Landsleuten einen Bären aufbinden wollen?
    Wie auch immer. Sellmer teilte die Ansicht, dass es sich hier im sechsten Buch des Gallischen Krieges um das erste Jägerlatein der Weltliteratur handelte, dass seitdem jedes jägerische Phantasieerzeugnis als »Latein«, »Jägerlatein« bezeichnet wurde.
    »Und da wir schon mal bei den Tieren sind«, fuhr er fort: »Weiß jemand, woher die ›Zeitungsente‹ kommt?«
    »Aus den acta publica?«, wagte Pius eine Vermutung.
    Der Gong zur Pause ertönte. Niemand machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
    »Nun«, sagte Sellmer, »das hat nicht direkt etwas mit unserem Pensum zu tun. Nur so viel: Früher musste eine nicht völlig gesicherte Pressemeldung mit n.t. gekennzeichnet werden. N.t., was nichts anderes heißt als? Na, ich sag’s Ihnen: non testatum heißt das. N.t. Nicht bezeugt. Omnia bene?« Sprach’s und verstaute seinen Caesarenkopf wieder in der Aktenmappe. »Discipula Leonis, auf ein Wort.«
    Erwartungsvoll blieb ich sitzen, während die anderen sich zögernd erhoben. Bei der Kälte hatte es niemand eilig.
    »Sie können noch einsteigen.« Sellmer reichte mir den Abzug einer Matrize: »Hier. Würde mich freuen, wenn Sie mitmachten, in currum currentem saliens, auf den fahrenden Zug aufspringend, sozusagen.«
    Ich sah den Lehrer verständnislos an. Der schaute auf die Uhr. »Die Oberprima drüben wartet. Sie finden alles in diesem Papier. Das hat Zeit bis zu Hause.«
     
    Es war ein Liebesbrief. Sellmers Liebesbrief an die lateinische Sprache. Die Beschwörung ihrer Einzigartigkeit. Von ihrem Ursprung, ihrem Wachsen, ihrer Meisterschaft, sich des Griechischen
zu bedienen, war da zu lesen; von den Dichtern, die sie genutzt, geformt und entwickelt hatten; vom Siegeszug des Lateinischen als Sprache der abendländischen Wissenschaft für mehr als anderthalb Jahrtausende; von ihrer Fähigkeit, die Sprachen der unterworfenen Völker zu bereichern: das Englische, Deutsche, Französische; mehr als drei Viertel aller Fremdwörter im Deutschen stammten aus dem Lateinischen.
    »Das Lateinische - eine tote Sprache?«, schloss das Plädoyer, und ich glaubte, Sellmers höhnisch triumphierende Verneinung zu hören. »Wir alle sprechen Latein, ohne es zu wissen. Wenn wir Augen und Ohren offenhalten, stoßen wir überall auf lateinische Redewendungen und Schlagwörter.«
    Diese galt es aufzuspüren. Nolens volens und tabula rasa, cui bono und in medias res …
    Aber Sellmer ging es um mehr. Auch einzelne lateinische Wörter, die im Deutschen so taten, als gehörten sie seit den Urgermanen dazu, sollten aufgestöbert werden, Wörter, unverändert seit Augustus’ Zeiten, wie Zirkus, Alibi, Datum, Globus, Interesse, Luxus, Motor, Propaganda, Terror, Universum … Dazu deutsche Wörter lateinischer Abstammung, wie Ziegel aus tegula, Mauer aus murus. Und schließlich deutsche Wörter, die
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