Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Mensch kann auf seinem Weg alles verlieren: Jugend, Gesundheit, Kraft, Glauben, Gedächtnis, Namen. Bewahrt er sich sein Lachen, bleibt er Mensch. Der Anlass Deines Lachens spielt keine Rolle. Oft fragst Du Dich hinterher, worüber Du eigentlich gelacht hast. Du kannst Dein eigenes Lachen nicht enträtseln. Lachen ist Selbstverteidigung. Durch Lachen überwindest Du, was über Dir steht, stärker ist als Du. Lachen ist Philosophie. Selbstbestätigung. Du kannst in auswegloser Lage sein. Das Lachen drängt von innen herauf und hebt Deine Bürde an. Schützt Deine
Würde. Lachen ist Befreiung.« Ich tastete nach dem Lachstein. Und lachte.
    Der Verkehr wurde dichter, eine glitzernde Strecke an erleuchteten Schaufenstern, Neonreklamen vorbei. In Riesdorf stiegen die Gymnasiasten aus, ich reihte mich in die Schülerschar ein, über die Straße, durch den Park, es dämmerte nun, und ich spürte die Blicke, die mich, offenbar das einzige Mädchen, trafen. Kaum hatten wir den Schulhof erreicht, ertönte ein Gong, man ordnete sich klassenweise, nur die Älteren blieben in Gruppen zusammen. Ich schob mich hinter einen Baum.
    Kein Lehrer in Sicht. Es gongte zweimal, ein Mann stieß das Portal des Backsteingebäudes auf. Ich trat aus der Deckung, marschierte in meinen Stiefeln aus Seehundsfell durch die Reihen der Schüler dem Mann entgegen, Pfiffe und Anrufe kaum wahrnehmend. Der Mann war auf der oberen Treppenstufe stehen geblieben, so, dass ich hinaufstapfen musste, um ihn, zwei Stufen unter ihm stehend, mit einem Blick wie die Engel im Himmel gen Christus, zu fragen, wo bitte denn die Klasse des Aufbaugymnasiums sei. Drei weitere Schläge tat der Gong, die Schüler setzten sich in Bewegung.
    »Halt!«, donnerte der Mann vor mir und hob die Hand am gestreckten Arm, um dem Schwarm Einhalt zu gebieten. Unwillkürlich duckte ich mich, trat - nicht leicht auf einer Treppe - einen Schritt zurück, wäre gestürzt, hätte die Hand mich nicht gepackt und auf den Füßen gehalten. »Aha, Sie sind also das Wunderkind«, sagte er mit freundlichem Spott. »Fest auf beiden Beinen bleiben. Und keinen Schritt zurückweichen! Trotzalledem! Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«
    Seine Hand, noch immer auf dem Ärmel meines Wintermantels, von Cousine Hanni, zwei Nummern zu groß, drehte mich langsam um. Er trat auf die Stufe neben mich, und so, seine Hand auf meinem Oberarm, gingen, nein, schritten wir die Stufen hinunter, an den glotzenden Schülern vorbei, die sich widerwillig in Richtung Klassenräume bewegten, wartendes Lehrpersonal schon warnend in den Fenstern.

    »Fräulein Palm, nehme ich an«, ergriff mein Führer das Wort. »Melzer, Geschichte und Philosophie. Ich habe schon von Ihnen gehört. Na, bei uns haben Sie ja jetzt endlich gut lachen.«
    Der Lehrer ließ meinen Arm fahren, ging voran und deutete über den Schulhof hinaus: »So, da sehen Sie’s schon.« Er blieb stehen. »Da vorne. Und jetzt entschuldigen Sie mich, meine Klasse wartet.«
    Vor mir stieg eine langgestreckte, graue Baracke mit kleinen, hellstrahlenden Fenstern wie ein Geisterschiff aus dem Morgendunst. Ich suchte ein Gymnasium. Das Aufbaugymnasium. Doch weit und breit war kein anderes Gebäude zu sehen. Nur ein Sportplatz und die weiten Auen um den Lauf eines Flüsschens.
    Vielleicht, dachte ich, zog man sich in der Baracke gerade für den Sportunterricht um; aber in dieser Kälte? Ich schob die Tantenmütze hoch, legte ein Ohr an die Bretterwand. »Quid est«, fragte eine Männerstimme, »in homine ratione divinius?« Ganz klar: Was ist im Menschen göttlicher als seine Vernunft? Die Stimme klang eintönig, gleichmäßig, artikulierte mit äußerster grammatikalischer Genauigkeit, die jede Vorsilbe, Endsilbe, jeden Schlusslaut geradezu zelebrierte, wobei sie keinen Unterschied machte zwischen Haupt- und Nebensätzen, geschweige denn zwischen Vor-, Haupt- und Endsilben, was dem Vortrag etwas Zwingendes, beinah Hypnotisierendes gab. Ich stand gebannt, versuchte zu übersetzen, versuchte zu folgen, vergaß die Kälte über einem gewissen Kritolaus, der in die eine Schale die Güter der Seele, in die andere die des Körpers legt. Was, ja, was hindert ihn, auf der Tüchtigkeit das glücklichste Leben aufzubauen? Ich klinkte die Tür auf, Hitze verschlug mir das Atmen. Runter mit der Mütze, dem Schal, raus aus dem Mantel. Die Innentür ging auf. Der Lateinlehrer. Groß, dürr, knochig; schwarzes, ölig glänzendes Haar fiel ihm in die Stirn, ein breiter, blasser Mund
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher