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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon
Autoren: Ruth Thomas
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an den Westminster-Piers gewesen. Aber mit
öffentlichen Verkehrsmitteln hatte es so lang gedauert, dort hinzukommen, daß
sie die Themse kaum noch mit der Gegend, in der sie wohnte, in Verbindung
brachte. Dabei betrug die Entfernung nur ungefähr vier Meilen.
    „Komm, komm, komm“, sagte Nathan
plötzlich in einem ganz anderen Ton. Im ersten Moment dachte Julia, er spreche
mit ihr. Vielleicht war er verrückt geworden. Dann sah auch sie die runden
Augen, die im Dämmerlicht leuchteten. Eine verwilderte Katze kam aus dem
Schatten der Zimmerecke.
    „Komm, komm, komm, ich hab was für
dich.“ Nathan zog eine schmuddelige Plastiktüte aus der Tasche und aus der Tüte
Essensreste — ein Stück Schinken, etwas Käse, einen Brocken fettes Fleisch vom
letzten Abendessen. Er hielt der Katze den Schinken hin, und sie kam auch
zögernd ein Stück näher, doch aus seiner Hand fressen wollte sie nicht. Zwei
Schritte vor ihm blieb sie stehen, den Blick auf seine Hand gerichtet, zitternd
vor Verlangen. Ein Ohr war eingerissen und ein Auge völlig geschlossen.
    „Die ist echt wild“, erklärte Nathan, „die
traut keinem.“
    Er legte den Schinken auf den Boden und
trat ein paar Schritte zurück. Die Katze stürzte sich darauf, als habe sie seit
mindestens einem Monat nichts Anständiges mehr zu essen bekommen — was den
Tatsachen entsprach.
    „Die hier hab ich Sooty genannt“, sagte
Nathan. „Es gibt noch eine. Tiger, Tiger, komm her, Tiger.“
    Eine zweite Katze erschien, genauso
abgemagert wie die erste, aber nicht halb so ängstlich. Sie kam direkt zu
Nathan, miaute eine Begrüßung und holte den Brocken Fleisch aus seiner Hand.
Nathan verteilte den Käse unter den beiden Katzen, und die mit den roten
Streifen erlaubte ihm, ihren Kopf zu streicheln. Ihr Schnurren hallte in dem
leeren Zimmer.
    „Es hat Wochen gedauert, bis ich sie
gezähmt hatte“, erzählte Nathan stolz, „aber ich hab’s geschafft.“
    „Ich hätte auch gern eine Katze“, sagte
Julia. „Ob ich sie streicheln kann?“
    „Ich glaub’s kaum. Aber du kannst es ja
mal versuchen. Paß auf, daß sie dich nicht kratzt.“
    Zögernd streckte Julia die Hand aus.
Die Katze beäugte sie mißtrauisch, gab dann aber ihrem Verlangen nach
Zärtlichkeit nach. Nathan betrachtete Julia mit den Anfängen einer gewissen
Hochachtung, auch wenn ihm das, was er sah, nicht sonderlich gefiel. „Merkwürdig“,
murmelte er, „eigentlich mag sie nur mich.“
    Eine Weile schwiegen beide.
    „Warum schwänzt du eigentlich die Schule?“
fragte Nathan unvermittelt.
    „Das geht dich nichts an“, erwiderte
Julia. „Und außerdem kriegst du mehr Probleme. Mrs. Henrey hat gesagt, daß du
zu Mr. Barlowe mußt.“
    „Das vergißt sie auch wieder“, meinte
Nathan unbeeindruckt. Wieder eine lange Pause.
    „Was hat das Haus hier eigentlich mit
Piraten zu tun?“ wollte Julia wissen. Sie hatte die ganze Zeit darüber
nachgedacht. „Wie kommst du darauf, daß hier Piraten sind?“
    Er nahm das ja nicht wirklich an. Er
dachte nur, es sei ganz nett, wenn es welche gäbe. Es war eine aufregende Idee,
etwas, das er sich vorstellen konnte, wenn er allein war.
    „Ich hab schon Sachen hier gefunden“,
sagte er geheimnisvoll. „Einmal hab ich eine Pfeife gefunden und einen alten
Schuh.“ Abfall dieser Art lag tatsächlich haufenweise überall im Zimmer herum,
überzogen von Spinnweben.
    „Bestimmt von einem Landstreicher“,
sagte Julia. Wahrscheinlich hatte sie recht, aber es war viel interessanter
anzunehmen, daß die Sachen von einem Piraten stammten. „Einmal hab ich auch ein
Blatt gefunden mit so komischen Zeichen darauf. Höchstwahrscheinlich eine
verschlüsselte Botschaft.“
    Julia dachte lange nach. „Vergraben
Piraten ihre Schätze nicht?“ fragte sie schließlich. „Vielleicht haben sie hier
einen Schatz vergraben.“
    „Nö — ihre Schätze vergraben sie immer
auf einer Insel. Dann machen sie auf der Landkarte ein Kreuz an der Stelle,
damit sie später wieder wissen, wo die Schätze liegen.“
    „Vergraben sie sie wirklich nie in
einem Haus? Wir könnten doch mal nachschauen. Komm, Nathan, laß uns nachschauen.“
    „Nö.“
    „Warum nicht? Vielleicht finden wir
doch was. Wo würden sie die Sachen verstecken, wenn sie es hier tun würden?“
    Was war die blöd! Sie kapierte
überhaupt nicht, daß das Ganze nur ein Spiel war. Sie dachte tatsächlich, es
sei wahr.
    „Wo würden sie die Sachen verstecken,
Nathan? Was glaubst du?“
    „Unter den
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