Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon
Autoren: Ruth Thomas
Vom Netzwerk:
Nerven ohnehin angespannt
waren, schrie sie erschrocken auf und drehte sich dann wütend um.
    „Was soll das?“
    Nathan grinste. Ich hab sie ganz schön
erschreckt, dachte er zufrieden. „Nichts. Schwänzt du die Schule?“
    „Nein.“ Julia warf den Kopf zurück und
machte einen Schmollmund. „Ja“, gab sie dann kleinlaut zu.
    „Ich auch“, sagte Nathan — und bereute
es im selben Augenblick. Er mußte verrückt sein, daß er sich dieser dummen
Ziege anvertraute, dem absoluten Schlußlicht der 6. Klasse. Dann beschloß er,
das Beste aus der Sache zu machen. Vielleicht konnte es ja ganz lustig werden,
jedenfalls verging der Tag schneller, ein langer Tag ohne Buch, ohne irgend
etwas zu lesen. Er hatte vergessen, Die Schatzinsel von zu Hause mitzunehmen, und jetzt
konnte er nicht mehr zurück und sie holen. „Was machst du hier?“ fragte er
Julia.
    „Mich verstecken. Was glaubst du denn?“
    „Aber du kannst doch nicht an der
Straße stehenbleiben.“
    „Warum nicht?“
    „Bist du tatsächlich so blöd, oder tust
du nur so?“ fragte Nathan verächtlich. „Nach der Morgenversammlung suchen sie
nach dir. Mrs. Peters vom Jugendamt sucht mit ihrem Auto alle Straßen ab. Wir
müssen uns richtig verstecken.“
    „Wo?“
    „Ich weiß einen Platz.“ Wieder bereute
Nathan halb, was er gesagt hatte. „Du mußt aber versprechen, daß du niemand was
davon sagst.“
    „Ist es ein Geheimnis?“
    „Ja — es ist ein geheimes Versteck, und
du mußt versprechen, daß du es niemand verrätst.“
    Julia starrte ihn an. Kein Mensch hatte
sie bisher in ein Geheimnis eingeweiht, und sie fühlte sich enorm
geschmeichelt, daß es jetzt jemand tat — auch wenn es nur der unmögliche Nathan
war, den keiner leiden konnte.
    „Versprochen“, sagte sie betont
gleichgültig.
    „Dann komm, Rattengesicht.“
    Wie benommen folgte ihm Julia um die
Ecke und in die nächste Straße. Ein leerstehendes Haus, der Garten voller
Unkraut und die Fenster längst alle eingeworfen und geborsten, verschandelte
die ansonsten gepflegte Einfamilienhaussiedlung. Hinter der Häuserreihe
rumpelte ein Zug vorbei. „Hier ist es“, sagte Nathan. „Hier drin.“
    Julia war enttäuscht. „Das ist doch
kein geheimes Versteck“, widersprach sie. „Daß das Haus leersteht, sieht doch
jeder.“
    „Aber niemand weiß, daß ich da reingehe“,
meinte Nathan. „Es ist meine Geheimwohnung. He, was machst du da?“ Julia hatte
einen Schritt in den von Unkraut überwucherten Vorgarten gemacht, doch Nathan
zog sie zurück. „Wir müssen ganz sicher sein, daß uns niemand hineingehen
sieht.“
    Er machte eine große Schau daraus.
Zuerst spazierte er auf der Straße auf und ab, wobei er überall hinschaute, nur
nicht zu dem Haus. Am anderen Ende der Straße ging eine Frau mit einem
Einkaufskorb, doch sie zählte nicht, sie war zu weit weg. Dann mußten die
Fenster der benachbarten Häuser in Augenschein genommen werden. „Sieh
unauffällig nach, ob jemand herausschaut“, wies Nathan Julia an. Er flüsterte
verschwörerisch, und Julia begann die ganze Sache großen Spaß zu machen. „Es
schaut keiner“, versicherte sie ihm im selben verschwörerischen Ton.
    „Jetzt!“ zischte Nathan und hechtete zu
der halboffenen Tür des leerstehenden Hauses. Julia folgte ihm. Nebeneinander
standen sie in der düsteren Diele, in der es nach Moder und faulendem Holz
roch. Der schmächtige, dunkelhäutige Junge mit dem finsteren Gesicht und den
schlechten Augen und das hochaufgeschossene, weiße Mädchen mit den hängenden
Schultern. Sie schauten sich an, unbehaglich, mißtrauisch. Dann ging Nathan
wortlos weiter hinein in seine geheime Wohnung. Julia blieb ihm auf den Fersen.
    Sie setzten sich auf die nackten
Bodenbretter. Es war kaum wärmer als draußen, aber wenigstens trocken. Wieder
fuhr ein Zug vorbei. Das Geräusch war diesmal lauter, das ganze Haus bebte.
    „Wenn du es genau wissen willst, ist es
wahrscheinlich nicht allein meine Wohnung“, sagte Nathan. „Sie gehört auch noch
einem Piraten.“ Sein Kopf war so voll von der Schatzinsel, daß er nur noch an Piraten dachte.
    „Das ist doch Quatsch“, meinte Julia. „Piraten
gibt’s doch nur auf dem Meer. Hier ist doch weit und breit kein Meer.“
    „Aber der Fluß“, sagte Nathan. Er war
nicht bereit, seinen Traum so schnell aufzugeben.
    „Welcher Fluß?“
    „Du weißt schon, da wo das Parlament
ist.“
    „Ach so, der Fluß.“
    Julia war im letzten Sommer oder auch
schon im Sommer davor einmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher