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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon
Autoren: Ruth Thomas
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hinauf nach Hause.
    Als sie in die Straße einbog, in der
sie wohnte, begannen die Tränen zu fließen und liefen ihr über die bleichen
Wangen. Heftige Schluchzer schüttelten sie. Bis sie ihr Haus erreicht hatte,
heulte sie laut.
    Julia wohnte im Obergeschoß eines
umgebauten Reihenhauses. Als sie heulend die Treppe hinauflief, kam ihre Mutter
in die Diele.
    „Du liebe Güte, was ist denn mit dir
los?“ fragte sie und betrachtete ihre verheulte Tochter mit einigem
Widerwillen. Mrs. Winter sah ausgesprochen gut aus. Das blondgefärbte Haar lag
in gleichmäßigen Wellen, sie hatte eine gute Figur und trug ausgesucht elegante
Kleidung. Die Gesichtszüge waren etwas hart, aber auf ihre Art hübsch, und das
Make-up war tadellos. Die reizlose Julia hatte sich für sie als große
Enttäuschung herausgestellt.
    „Hör um Himmels willen mit der Heulerei
auf“, sagte Mrs. Winter mitleidslos. „Es ist doch niemand gestorben, oder?
Also, was ist los?“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, weil sie gerade die
rote Farbe auf Julias Kleid bemerkt hatte. Ihre Stimme wurde zu einem
Kreischen. „Schau dir nur mal dein Kleid an! Wie hast du es bloß wieder
geschafft, so auszusehen?“
    „Es war ein Versehen“, jammerte Julia.
    Das fleckige, tränenüberströmte Gesicht
und der offene Mund mit hängenden Mundwinkeln besänftigten die Mutter nicht. „Ein
Versehen! Bei dir ist immer alles ein Versehen. Glaubst du, ich hab nichts
Besseres zu tun, als nur für dich zu waschen? Ich gehe auch noch zur Arbeit,
falls du das vergessen hast. Heute sollte eigentlich mein freier Tag sein.
Mach, daß du ins Badezimmer kommst und dich wäschst. Und weiche dein Kleid ein.
Das bedeutet wieder mal zusätzliches Bügeln für mich. Du raubst mir noch die
letzten Kräfte, Julia, und das ist nicht übertrieben.“
    „Du magst mich nicht. Du magst mich
kein bißchen. Du hast mich nie gemocht!“ schrie Julia ihre Mutter an.
    Sie warf die Badezimmertür hinter sich
zu. Sie hatte aufgehört zu weinen. Was sie jetzt empfand, grenzte an schiere
Verzweiflung. An Einsamkeit war sie gewöhnt, doch nie zuvor war ihr
schmerzhafter bewußt geworden, daß sie niemanden hatte, dem sie ihre Sorgen
anvertrauen konnte. Wenn sie nur eine Schwester hätte. Oder eine Großmutter.
Oder einen freundlichen Vater, wie andere Kinder einen hatten, der zumindest
abends daheim war. Aber Julias Großmutter war schon vor Jahren gestorben, und
ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch ein Baby war, so daß sie
sich nicht einmal mehr an ihn erinnern konnte. Jetzt waren es also nur noch Julia
und ihre Muter, die in dem kleinen, umgebauten Apartment wohnten und sich
gegenseitig auf die Nerven gingen. Julia ließ das farbverschmierte Kleid auf
den Badezimmerboden fallen. Ganz bewußt weichte sie es nicht ein, wie die
Mutter es verlangt hatte. Sie ist so schrecklich gemein zu mir, soll sie es
doch selber machen, dachte sie zornig.
     
    Während Julia verzweifelt war, weil sie
keine Geschwister hatte, lag Nathans Problem darin, daß er seiner Meinung nach
viel zu viele hatte. Sie waren zu sechst. Zwei ältere Schwestern, deren Kleider
überall herumlagen und die mit ihren lauten Stimmen und der noch lauteren Musik
das Haus füllten. Ein Bruder wohnte zwar nicht mehr daheim, doch wenn er
gelegentlich kam, wurde alles noch schlimmer, weil er sich mit den Schwestern
und den Eltern stritt und es dann immer eine Menge Geschrei und unschöne Szenen
gab. Manchmal bekamen sich die Schwestern auch untereinander in die Haare. Und
als ob das alles nicht genug gewesen wäre, gab es auch noch die beiden jüngeren
Brüder, die im Schlafzimmer Platz für sich beanspruchten und Nathans Frieden
störten. Nathan schätzte seine Ruhe, wenn er sie kriegen konnte, fast mehr als
alles andere.
    Nachdem er an diesem Tag der Klasse
davongelaufen war, war er nicht nach Hause gegangen, sondern zu seinem
Versteck. Keiner wußte, wo Nathans Versteck war, wohin er nun schon seit ein
paar Wochen regelmäßig ging.
    Nathan kam also spät nach Hause, aber
niemand fragte ihn, wo er gewesen sei, da in seinem Haus immer so viele Leute
ein und aus gingen, daß es gar nicht so einfach war festzustellen, ob jemand
fehlte. Nathan bahnte sich einen Weg durch die Menge der Schwestern und der
Freundinnen der Schwestern und der kleinen Brüder. Die Mutter war wohl in der
Küche und kochte das Abendessen, das auf den Tisch kam, wenn der Vater, von wo
immer er seine arbeitslosen Tage verbrachte, nach Hause
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