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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon
Autoren: Ruth Thomas
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Weg zur Werft, außer über die
Klippen. Und die waren viel zu steil. Außerdem hätte man sie da auch gesehen.
Aber wenn es dunkel wäre und sie sich schon irgendwo in der Werft versteckt
hielten...
    Vielleicht gab es doch einen Weg
hinunter, einen, der einfacher war. Auf der anderen Seite der Klippen, zum
offenen Meer hin, schien eine Treppe zu sein. „Komm!“ Nathan packte Julia am
Handgelenk und zog sie zu den Stufen, die er zu sehen glaubte.
    Die Stufen führten nach unten zum
Strand, vorbei am hinteren Ende der Werft. Unten lagerten große Berge von
frischem Holz. Nathan roch es im Laufen. Auf halber Höhe der Treppe blieb er
stehen. Einer der Holzstöße war dicht bei den Klippen aufgeschichtet. Zwischen
dem Holz und dem Fels war ein schmaler Zwischenraum. Das wäre ein gutes
Versteck. Nathan blickte hinunter. Er mußte sich weit Vorbeugen, um den Boden
des Zwischenraums zu sehen. Er ging davon aus, daß die Polizisten ihn und Julia
dort nicht entdecken würden, falls sie die Stufen herunterkamen und sie
suchten.
    Doch wie hinkommen?
    Links war ein steiler, grasbewachsener
Abhang, die Erde war naß. Unten war eine Mauer, etwa eineinhalb Meter hoch. Für
ihn war das Runterspringen kein Problem. Selbst Julia müßte es schaffen.
    Nathan schaute sich um. Konnte sie
jemand sehen? Ein langgestreckter Schuppen verlief vom Hafen aus fast quer über
die Werft. Auf ihrer Seite des Schuppens waren keine Arbeiter, nicht ein
einziger. Eine Chance wie diese würden sie nie mehr bekommen.
    „Komm, Jule, hier runter.“
    Julia folgte Nathan, ohne zu fragen.
Sie war zu müde und zu niedergeschlagen, um für sich selber zu denken. Sie
würde tun, was Nathan sagte. Er schlitterte den Abhang runter, wobei er mit den
Armen das Gleichgewicht hielt. Die letzten anderthalb Meter sprang er und
landete sicher auf dem Boden, die gebeugten Knie und Knöchel fingen den
Aufprall federnd ab. Julia versuchte, es ihm gleichzutun. Ungefähr auf halber Höhe
des Abhangs verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf die Seite. Sie
schlitterte und kullerte weiter, fiel über die Mauer und landete hart auf dem
Boden.
    „Komm, Jule“, sagte Nathan. Er kroch
bereits in das Versteck hinter dem Holzstoß.
    „Ich kann nicht.“
    „Was soll das heißen, ich kann nicht?
Wir müssen uns verstecken.“
    „Mein Bein. Ich kann mich nicht
bewegen.“
    „Natürlich kannst du dich bewegen!“
Ungeduldig packte Nathan Julia bei den Schultern und zog sie in das herrliche
Versteck. Julia schrie auf.
    „Stell dich nicht so an! Willst du, daß
sie dich hören?“
    Doch Julias Gesicht war weiß vor
Schmerzen. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und biß sich auf die Lippe.
    „Hast du dir wirklich weh getan?“
    „Ja.“
    „Warum hast du nicht besser aufgepaßt?“
    „Ich hab’s ja versucht. Aber ich kann
nicht so gut klettern wie du.“
    Nathan überlegte. „Soll ich dir den Fuß
verbinden, wie du mir den Arm verbunden hast?“
    „Wir haben keine Binde.“
    Nathan zog sein T-Shirt aus und
versuchte, damit einen Verband um das Bein zu legen, doch Julia schrie vor
Schmerz, als er es berührte, und so zog er das T-Shirt wieder an.
    „Bleib still sitzen und ruh den Fuß
aus, Jule. Dann ist es bis heute abend bestimmt wieder gut.“
    „Ist es nicht.“
    „Doch. Woher willst du wissen, daß es
nicht wieder gut ist?“
    „Ich glaube, er ist gebrochen.“
    „Ausgeschlossen. Er kann nicht
gebrochen sein.“
    „Ich glaub’s aber.“
    Drückendes Schweigen.
    „Nathan?“
    „Was?“
    „Ich kann nicht mit aufs Schiff, oder?“
    Schweigen.
    „Ich kann nicht, Nathan. Ich kann
nicht.“
    „Nein.“
    „Holst du einen Krankenwagen für mich?“
    „Nein.“
    „Was willst du denn machen?“
    Wieder Schweigen.
    „Was willst du machen, Nathan?“
    „Jule — ich muß auf das Schiff, ich muß
einfach! Es ist meine einzige Chance. Meine beste Chance auf der Welt!“ Er
mochte sich nicht besonders, als er das sagte, aber er sagte es trotzdem. „Und
mich willst du hier lassen?“
    „Ja.“
    „ Ganz allein?“
    „Du mußt keine Angst haben, Jule. Sie
kommen und bringen dich in ein schönes Krankenhaus und schauen nach dir. Du
brauchst wirklich keine Angst zu haben.“
    „Es tut so weh!“ jammerte Julia. „Laß
mich nicht im Stich, Nathan!“
    „Pssst, man kann dich doch hören. Ich
geh noch nicht... Es ist noch nicht dunkel... Wir haben noch ein paar Stunden
Zeit.“ Julia drehte das Gesicht zur Felswand. Vor Schmerz und Einsamkeit liefen
ihr die
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