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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Autoren: Marcel Proust
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Köstlichkeit also. Ich übersetzte anfangs mit Rautenscholle ; eigentlich wäre Glattbutt zutreffend. Cardons à la moelle sind nicht Artischocken (Rechel-Mertens), sondern Kardonen mit Mark , Kardonen oder Karden, ein äußerst delikates, artischockenähnliches Gemüse, das leider in nördlichen Gefilden kaum zu haben ist. Schließlich steht in dem zu revidierenden Text für groseilles nicht Johannisbeeren , sondern Stachelbeeren ( groseilles à maquereau ). Das heißt nun nicht, jeder Übersetzer müsse unbedingt auch ein Feinschmecker sein, vielmehr muß er, auch wenn er es ist, bei jeder noch so kleinen Ungewißheit das Wörterbuch zu Rate ziehen.
    Nur haben aber auch Wörterbücher ihre Grenzen – im quantitativen und im qualitativen Sinn. Sie können nicht alle Wörter enthalten, und sie enthalten eben nur Wörter, während es in einer Übersetzung nicht nur bei den Wörtern, sondern auch den Sätzen und Absätzen, Perioden und Sequenzen stimmen muß. Stimmigkeit einer ganzen Passage ist bei dem folgenden Beispiel aus Le Côté de Guermantes gefragt. Es geht um die enttäuschten Vorstellungen des Romanhelden von dem Garten des Guermantesschen Palais: »et je sus en fin qu’on n’y voyait ni gibet seigneurial, ni moulin fortif ié, ni sauvoir, ni colombier à piliers, ni four banal, ni grange à nef, ni châtelet, ni ponts fixes ou levis, voire volants non plus que péagers, ni aiguilles, chartes murales ou montjoies.« ( Le Côté de Guermantes [3], Bd. II, S. 328.)
    Während Marcel eine Illusion verliert, absolviert Proust ein stilistisches Exerzitium und schreibt eine Art Michelet- oder Augustin-Thierry-Pastiche. Von gibet seigneurial bis montjoies hat jedes Wort neben seiner eigentlichen Bedeutung auch die übertragene Bedeutung »feudales Mittelalter«.
    Vor Eva Rechel-Mertens (1955) haben sich schon Walter Benjamin und Franz Hessel (1930) mit dieser Passageauseinandergesetzt: »schließlich erfuhr ich auch, zu sehn gäbe es da weder Lehnsherrngalgen noch Fischweiher, nicht Bannbackhaus noch Scheuer, weder Gerichtslaube noch feste oder Zugbrücken geschweige denn fliegende, so wenig wie Zollhaus, Kirchturm und Malhügel.« ( Die Herzogin von Guermantes , München, Piper, S. 32.)
    Eva Rechel-Mertens: »und ich erfuhr denn auch, daß es dort weder einen der Exekutionsgewalt der Herrschaft dienenden Galgen, noch eine befestigte Mühle, ein Verlies, ein auf Pfeilern ruhendes Taubenhaus, noch Bannbackhaus, noch Feldscheuer, noch Gerichtslaube, noch Zug- oder Schwebebrücken, geschweige denn Zollhäuschen, Obelisken, Rechtsarchive, Zinnen oder zum Gedächtnis alter Heldentaten errichtete Hügel gebe.« ( Die Welt der Guermantes , »suhrkamp taschenbuch«, S. 32.)
    Frankfurter Ausgabe: »und ich erfuhr schließlich auch, es gebe dort weder einen Blutgerichtsgalgen noch eine befestigte Mühle zu sehen, weder einen Karpfenteich noch einen Taubenschlag auf Pfeilern, weder Zwangsbackhaus, Hallenscheune, Gerichtslaube noch Stein- oder Zug-, geschweige denn Hänge- oder Zollbrücken, weder Turmspitzen, Wandchartas noch Denkmäler aus heldischer Frühzeit.« ( Guermantes [18], S. 33.)
    Zu gibet seigneurial : Der Benjaminsche Lehnsherrngalgen ist nicht falsch, aber mit dem doppelten Genitiv etwas schwerfällig; noch schwerfälliger wirkt die analytische Umschreibung bei Rechel-Mertens. Auf Rat meines mediävistischen Kollegen Ludwig Schmugge setze ich Blutgerichtsgalgen . Zu moulin fortif ié : Wie andere unbequeme Elemente fällt moulin fortif ié bei Benjamin und Hessel unter den Tisch; ich habe die Rechel-Mertenssche befestigte Mühle übernommen. Zu sauvoir : Sauvoir bedeutet tatsächlich Fischweiher und nicht Verlies , einen Fischweiher jedoch, der der Herrschaft untersteht. Ich mische deshalb etwas feudale Farbe bei und übersetze mit Karpfenteich . Zu colombier à pilier : Auch der Taubenschlag auf Pfeilern wird von Benjamin und Hessel ausgelassen. Zu four banal : Der Ausdruck bedeutet Bannbackhaus oder Zwangsbackhaus . Zu grange à nef : Das kann man zwar übersetzen; mittelalterlich an dieser Scheune ist aber wohl nur die Tatsache, daß sie sich im Inneren der Befestigungbefindet. Zu châtelet : Mit Gerichtslaube herrscht für einmal unter den Übersetzern Einigkeit. Bei der nun folgenden Aufzählung verschiedener Brücken aber kann ich meinen Vorgängern nicht folgen. Beide verstehen péagers als Zollhaus . Nun kann péager zwar als Substantiv verwendet werden, heißt dann aber Zöllner ; hier aber ist es
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