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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Autoren: Marcel Proust
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unerschöpflichen Vorrat an Poesie darstellt. Die Luft ist dort von einer so nahrhaften, so schmackhaften, allerfeinsten Stille gesättigt, daß ich mich darin immer nur mit einer Art Eßlust bewegte, besonders zu Beginn, in jenen noch kühlen Morgenstunden der Karwoche, wo sie mir besonderen Genuß bereitete, da ich ja eben erst in Combray angekommen war. Bevor ich zu meiner Tante durfte, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, mußte ich einen Augenblick im ersten Raum warten, in dem die noch winterliche Sonne sich an die Wärme vor das Feuer gelegt hatte, das zwischen den beiden Schamottsteinen schon brannte und das ganze Zimmer mit einem Geruch nach Ruß übertünchte; es machte daraus gleichsam einen jener großen, auf dem Land anzutreffenden Backofenvorräume oder einen jener in Schlössern häufigen Kaminvorbauten, unter deren Schutz man sich wünscht, es möchte draußen ein Gewitter, ein Schneesturm oder sogar eine sintflutartige Katastrophe losbrechen, damit die Behaglichkeit desGeborgenseins durch die Poesie der Winterzeit gesteigert würde; ich ging ein wenig hin und her zwischen dem Betschemel und den mit gepreßtem Velours bezogenen Sesseln, auf deren Kopfteil stets ein gehäkeltes Deckchen lag; und während das Feuer die krümelig den Raum füllenden, leckeren Gerüche, die von der feuchten, sonneglänzenden Frische des Morgens schon durchgeknetet und zum »aufgehen« gebracht worden waren, wie einen Teig buk, ließ es sie blättrig, goldgelb und bauschig werden, ließ sie anschwellen zu einem unsichtbaren und doch faßbaren ländlichen Backwerk, einer riesigen »Dampfnudel«, in der ich mich immer wieder, sobald ich die knusprigeren, feineren, geschätzteren, doch auch trockeneren Aromen des Schranks, der Kommode und der Rankenwerktapete gekostet hatte, mit uneingestandener Gier von dem unbestimmbaren, klebrigen, faden und unbekömmlichen Fruchtduft der geblümten Bettdecke gefangennehmen ließ.
    Im Nebenzimmer hörte ich meine Tante halblaut mit sich selber reden. Sie sprach immer nur gedämpft, denn sie glaubte, in ihrem Kopf etwas Zerbrochenes und Gelockertes zu verschieben, wenn sie die Stimme zu sehr erhob; doch selbst wenn sie allein war, hielt sie es nie lange ohne zu reden aus, denn sie glaubte, es sei gut für ihren Hals und werde, indem es das Stocken des Blutes dort verhindere, die Erstickungsanfälle und Angstzustände, an denen sie litt, seltener auftreten lassen. Außerdem maß sie infolge der absoluten Tatenlosigkeit, in der sie ihre Tage verbrachte, noch ihren geringsten Empfindungen eine ungeheure Bedeutung bei; sie verlieh ihnen ein Bewegungsvermögen, das es ihr schwermachte, sie ganz für sich zu behalten, und da sie niemanden hatte, dem sie es hätte anvertrauen können, gab sie sich selbst davon Kunde, in einem ständigen Monolog, der ihre einzige Form der Betätigung war. Unglücklicherweisegab sie, nachdem sie die Gewohnheit des lauten Denkens angenommen hatte, nicht immer darauf acht, ob sich auch niemand im Nebenzimmer befand, und so hörte ich sie oft zu sich selber sagen: »Ich muß unbedingt daran denken, daß ich nicht geschlafen habe« (denn niemals zu schlafen war ihr großer Ehrgeiz, und wir nahmen in unserer Umgangssprache weitgehend darauf Rücksicht: am Morgen ging Françoise sie nicht etwa »wecken«, sondern sie »ging zu ihr hinein«; wenn meine Tante im Laufe des Tages ein Schläfchen machen wollte, so hieß es, sie wolle »nachdenken« oder »ruhen«; und wenn sie sich einmal so weit vergaß zu sagen: »was mich dann aufgeweckt hat« oder »ich träumte, ich …«, so errötete sie und korrigierte sich auf der Stelle).
    Unmittelbar darauf trat ich ein und gab ihr einen Morgenkuß; Françoise goß den Tee auf; oder wenn meine Tante sich nervös erregt fühlte, wünschte sie statt dessen einen Lindenblütentee, und dann fiel mir die Aufgabe zu, aus dem Apothekerbeutel so viel Blüten auf einen Teller zu schütten, wie man gleich darauf in das kochende Wasser geben mußte. Durch das Trocknen hatten sich die Stengel zu einem eigentümlichen Gitterwerk zusammengerollt, in dessen Geflecht sich die blassen Blüten öffneten, als habe ein Maler sie angeordnet, sie auf die dekorativste Weise Modell sitzen lassen, wie es ihm am reizvollsten schien. Die Vorblätter hatten ihr eigentliches Aussehen verloren oder verändert, sie glichen jetzt den verschiedensten Dingen, einem durchsichtigen Insektenflügel, der weißen Rückseite eines Etiketts, einem Rosenblatt, alle waren
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