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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Autoren: Marcel Proust
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kleinen Korridortür wie eine Heilige in ihrer Nische. Hatte man sich einigermaßen an das Dunkel dieser Kapelle gewöhnt, erkannte man auf ihrem Antlitz den Ausdruck selbstloser Liebe zur Menschheit und gerührter Verehrung für die höheren Klassen, die in den besten Bezirken ihres Herzens durch die Hoffnung auf ein Neujahrsgeschenk noch gefestigt wurde. Mama zwickte mich nachdrücklich in den Arm und sagte laut: »Guten Tag, Françoise.« Auf dieses Signal hin öffneten sich meine Finger, und ich ließ das Geldstück los, das eine beschämte, aber doch ausgestreckte Hand zu seinem Empfang vorfand. Seit wir aber regelmäßig nach Combray kamen, kannte ich niemanden besser als Françoise; wir waren ihre Lieblinge, sie hatte für uns, wenigstens in den ersten Jahren, ebensoviel Hochachtung wie für unsere Tante, verbunden mit einer größeren Zuneigung, denn zu dem Prestige, das wir als Angehörige der Familie besaßen (vor den unsichtbaren Banden, die zwischen den Gliedern einer Familie durch den Strom des gleichen Bluts geschaffen werden, hatte sie die gleiche Ehrfurcht wie ein griechischer Tragiker), kam bei uns der Reiz, daß wir nicht ihre gewöhnliche Herrschaft waren. Mit welcher Freude empfing sie uns denn auch unter gleichzeitigem lebhaftem Bedauern, daß das Wetter noch nicht schöner sei bei unserer Ankunft am Tag vor Ostern, wo oft noch ein eiskalter Wind wehte, worauf Mama sie dann nach demErgehen ihrer Tochter und ihrer Neffen fragte sowie, ob ihr Enkel ein nettes Kind sei, was er werden solle und ob er seiner Großmutter gleiche. 1
    Und wenn dann sonst niemand mehr zugegen war, sprach Mama, die wußte, daß Françoise immer noch um ihre vor Jahren verstorbenen Eltern trauerte, in zärtlichem Ton von ihnen und fragte Françoise nach tausend Einzelheiten ihres Lebens.
    Sie hatte erraten, daß Françoise ihren Schwiegersohn nicht besonders mochte und daß er ihr das Vergnügen an dem Beisammensein mit ihrer Tochter verdarb, mit der sie nicht so frei reden konnte, wenn er dabei war. Daher auch sagte Mama, wenn Françoise ihre Familie an deren ein paar Meilen von Combray entfernt gelegenen Wohnort besuchen ging, lächelnd zu ihr: »Nicht wahr, Françoise, wenn Julien nun unbedingt anderswohin gemußt hat und Sie den ganzen Tag mit Marguerite allein sind, werden Sie es zwar schrecklich bedauern, aber Sie kommen darüber hinweg?« Und Françoise gab dann lachend zurück: »Madame weiß auch wirklich alles; Madame ist schlimmer darin als die Röntgenstrahlen 2 (sie brachte den Namen ›Röntgen‹ mit gekünstelter Schwierigkeit und einem Lächeln heraus, das ihr selber galt, weil sie in ihrer Unwissenheit ein so gelehrtes Wort benutzen wollte), die wir damals für Madame Octave gehabt haben und mit denen man einem direkt ins Herz gucken kann«, und verschwand in beschämter Verwirrung, daß jemand sich mit ihr beschäftigte, vielleicht auch, damit man sie nicht weinen sah; Mama war der erste Mensch, der ihr die wohltuende Empfindung verschaffte, daß das Dasein, das Glück, die Kümmernisse der Bäuerin, die sie war, Interesse haben und ein Anlaß der Freude oder der Traurigkeit für jemand anderen als sie selbst sein konnten. Meine Tante ergab sich darein, daß sie während unserer Anwesenheit ein wenig auf ihreGegenwart verzichten mußte, da sie wußte, wie sehr meine Mutter die Handreichungen dieser so verständigen und tätigen Dienerin schätzte, die ebenso schön aussah, wenn sie schon früh um fünf in ihrer Küche stand mit der Haube, deren schimmernde, steife Tollfalten wie aus Biskuit gemacht wirkten, wie wenn sie sonntags zum Hochamt ging; die alles gut machte, wie ein Pferd rakkerte, ob sie sich wohl fühlte oder nicht, und zwar immer lautlos, so als tue sie eigentlich nichts; sie war die einzige Dienerin meiner Tante, die, wenn Mama heißes Wasser oder schwarzen Kaffee haben wollte, diese beiden Dinge wirklich kochendheiß brachte; sie war einer jener dienstbaren Geister, die in einem Haus bei der ersten Begegnung einem Fremden am meisten mißfallen, vielleicht weil sie sich keine Mühe geben, ihn für sich einzunehmen, und nicht besonders zuvorkommend sind, da sie sehr wohl wissen, daß sie ihn nicht nötig haben und daß er eher nicht wieder empfangen wird, als daß sie entlassen werden; dafür aber sind sie gleichzeitig diejenigen, an denen ihrer Herrschaft, die ihre wahren Fähigkeiten kennt, am meisten gelegen ist, wogegen sie gerne auf jenes oberflächlich ansprechende Wesen, auf jenes
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