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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts
Autoren: R Lappert
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die Wunde. »Ich hole Hilfe«, sagte sie.
    »Nein«, flüsterte Ester und hielt Megans Hand fest. »Bleib.«
    Megan deckte Ester zu und streichelte ihre Wange. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Schlüssel und die Schnur weg waren.
    »Torben …«, sagte Ester und verstummte, als habe sie den letzten Rest an Kraft verbraucht, um den Namen auszusprechen.
    »Was ist mit ihm?« Megan beugte sich vor, spürte Esters Atem auf der Haut.
    »Ist ohne mich fort«, murmelte Ester.
    »Vielleicht ist der Schiffsmotor kaputt«, sagte Megan. Es war ihr egal, wie dumm das klang. »Er kommt bestimmt noch.«
    Ester schüttelte den Kopf so langsam, dass es als Bewegung kaum zu erkennen war.
    »Wer hat auf dich geschossen?«
    Ester fielen die Augen zu. Megan hielt ihre kühle Hand, streichelte sie. Das Prasseln des Regens wurde lauter. Flecken bildeten Inseln auf der Matratze. Esters Blut war ein Kontinent. Ein Insekt schwebte im Lichtkreis der Taschenlampe, seine Flügel flirrten silbrig. Als Megan sich neben sie legte, seufzte Ester. Megan zog ihr den Ring vom Finger und streifte ihr den eigenen über. Ihre und Esters Hände waren identisch wie die von Zwillingsschwestern. Ester sah den Ring an und lächelte, aber vielleicht bildete Megan sich das auch nur ein, weil das Licht flackerte, bevor es schwächer wurde und irgendwann verlöschte.
     
    In der Morgendämmerung begann Megan Türen auszuhängen, Küchenschränke zu zerlegen und Bretter mit einem Stück Eisen, das sie hinter dem Haus gefunden hatte, aus dem Fußboden zu stemmen. Aus den leergeräumten Nachbarhäusern holte sie noch mehr Türen und schleppte sie auf die neben dem Platz gelegene Wiese. Es hatte aufgehört zu regnen. Obwohl ein leichter Wind wehte und die Luft noch beinahe kühl war, schwitzte Megan. Wenn sie von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, sprang sie auf den Türen herum, bis sie splitterten. Die Wunde an ihrem Unterarm sah übel aus, aber Megan spürte sie so wenig wie den Fuß oder die Hände.
    Nachdem sie das Holz zu einem flachen Haufen geschichtet hatte, legte sie die Matratze darauf. Sie riss einen Vorhang in Fetzen und tränkte sie mit dem Benzin aus dem Tank des Mofas. Dann ging sie zurück ins Haus und setzte sich eine Weile im Schlafzimmer auf den Boden. Das Notizheft voller französischer Sätze, der Kugelschreiber, die leere Schmerzmittelpackung und das Feuerzeug waren die einzigen Dinge, die sich noch im Rucksack befanden. Megan steckte das Feuerzeug ein, wickelte Ester in die Decke und trug sie hinaus. Um der Schäbigkeit des Holzhaufens und der Matratze etwas entgegenzusetzen, suchte sie in der Wiese eine Handvoll Blumen und schmückte damit so gut es ging die Leiche.
    Sie war noch nie bei einer Beerdigung gewesen, fiel ihr ein, nicht einmal der ihres Vaters. Als Kind hatte sie im Garten unzählige Tiere begraben, sich aber geweigert, einen Friedhof zu betreten. Sie hatte Bruchstücke von Nachrufen auf Amseln, Mäuse und Hasen im Kopf und erinnerte sich an Sätze aus der Grabrede für ein Orang-Utan-Baby, aber welche letzten Worte man einem toten Menschen hinterherschickte, wusste sie nicht.
    Schließlich flüsterte sie die beiden Zeilen, die auf dem Grabstein von William Butler Yeats standen, zündete die mit Benzin getränkten Vorhangfetzen an und warf sie zwischen das Holz. Weil sie nicht mit ansehen konnte, wie Esters Körper in Flammen aufging, rannte sie weg, als das Feuer die Matratze erreichte und schwarzer Rauch in den Himmel stieg. Sie rannte bis zum Ende der Wiese, durchquerte ein morastiges Feld, verlor in einem Wassergraben einen Schuh und warf den anderen weg, stand bald am Strand und sah, wie der Regen über das Meer kam. Sie legte sich in den Sand, schöpfte Atem und schrie den Namen ihres Bruders zu den Wolken hoch.
    Sie war nicht mehr müde, als sie sich erhob, Hose, T-Shirt und Hemd auszog und in die schmutzige Brandung hinausging. Sie ließ die Schultern kreisen, wie sie es früher getan hatte, streckte die Arme aus, stieß sich mit den Füßen vom Grund ab und tauchte ins warme Wasser ein und schwamm los.

 
    Nachricht von Tobey
     
    Die Hunde bellen, seit es dunkel ist. Kaum liegst du da und denkst, wie still es endlich ist, fangen sie an. Als ob sie warten, bis der letzte Dieselgenerator und das letzte Licht und das letzte verfluchte Radio ausgeschaltet ist. Den ganzen Tag liegen sie im Schatten der Bäume und in den Mulden zwischen den Sträuchern. Wenn wir uns hinlegen, stehen sie auf, langsam und widerwillig, als
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