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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts
Autoren: R Lappert
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»Zeig sie mir«, sagte sie.
    Als Ester sich aufrichtete, hinterließ ihr Körper eine Form aus niedergedrückten Grashalmen, die sich mit Wasser füllte. Sie streckte die Hand aus. »Megan, bitte …«
    »Zeig sie mir!«, schrie Megan.
    Ester zuckte zurück wie vor einem Hieb. Die Hände und Knie in der schlammigen Erde, krümmte sie den Rücken und zog den Kopf zwischen die Schultern.
    »Ich zähle bis drei!« Megan hielt die Waffe mit beiden Händen fest. »Eins!«
    Ester stand auf. Sie steckte den Fuß in die Sandale und fing an zu weinen, als sie das Gleichgewicht verlor und beinahe hinfiel.
    Megan dachte an Briona Fanning, die sich mit ihrem Kind in die eiskalte Nacht gelegt hatte, an die Frau, die mit Steinen in den Manteltaschen ins Meer gegangen war, an Nunu, das Orang-Utan-Mädchen, das seine ganze Kraft dazu benutzt hatte, sein Leben zu beenden.
    »Zwei«, sagte sie leise und schloss die Augen.
    »Hör auf!«, schrie Ester.
    Megan öffnete die Augen.
    »Du willst sie sehen?«, brüllte Ester und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Dann komm mit!« Sie hob den Koffer auf, streckte die Hand nach dem Schirm aus, um ihn dann doch liegen zu lassen, und ging schließlich mit langsamen, unsicheren Schritten auf die Baumgruppe zu, hinter der die Baracken lagen.
    Ohne die Pistole herunterzunehmen, folgte ihr Megan.
     
    Hinter der Stahltür, die Ester mit einer Magnetkarte öffnete, befand sich eine zweite aus Eisengitter. Um sie mit einem Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trug, aufzuschließen, musste Ester zuerst die Stahltür zuziehen, und einen in Dunkelheit getauchten Moment lang teilten sich die beiden Frauen, die während des ganzen Weges kein Wort gesprochen hatten und auch jetzt schwiegen, den halben Quadratmeter zwischen den beiden Türen. Nachdem die Eisengittertür hinter ihnen wieder abgesperrt war, betraten sie einen Raum von der Größe einer Umkleidekabine, den eine in der Decke versenkte Leuchtstoffröhre gerade ausreichend erhellte. Warnschilder und Sicherheitsbestimmungen bedeckten zwei rotgestrichene Stahltüren, und als ob sich jemals Analphabeten oder des Englischen nicht Mächtige an diesen Ort verirren würden, wiederholten Piktogramme jedes Verbot und jede Regel. In einem offenen Schrank hingen weiße Schutzanzüge, auf Regalen standen gelbe Gummistiefel und Behälter mit Masken und Handschuhen. Ein Gewehr und ein Feuerlöscher hingen an der Wand. Auf einer gelben Tafel stand in schwarzer Schrift NOTAGGREGAT, auf einer anderen PUMPE.
    Ester stellte den Koffer auf den Boden. »Die Pistole kannst du weglegen. Ich zeige dir alles.« Sie wischte sich mit der Hand über das nasse, schmutzige Gesicht. »Leg sie weg. Bitte.«
    Megan die Waffe und steckte sie in die Hosentasche. Dann legte sie den Rucksack ab.
    Ester schob die Karte ins Schloss einer der beiden Türen, gab einen Zahlencode ein und zog die Karte wieder heraus. Ein grünes Licht blinkte, und die Tür wurde mit einem Klicken entriegelt. Ester stieß sie auf und betrat den Raum, in dem ein paar wenige Lampen brannten.
    Megan folgte ihr. Sie spürte, wie ihr das Herz im Hals schlug und das eisig brennende Gefühl in den Bauch zurückkehrte. Sie starrte auf Esters Rücken, in den Ohren das Summen der Generatoren und das leise Scheppern der Lamellen der Lüftungsanlage. Als Ester stehenblieb und einen Schritt zur Seite trat, öffnete sich vor Megan ein Gang von fünfzehn, vielleicht zwanzig Metern Länge, an dessen Wänden deckenhohe gekachelte Boxen verliefen, jede etwa zwei Meter breit und ebenso tief und jede zum Gang hin mit einer Scheibe aus transparentem Kunststoff versehen, in die eine Tür und eine Fütterungsklappe eingelassen waren, beide mit mehreren Riegeln versehen. In einem Metallrahmen an der Tür steckte eine Karte, auf der eine große Nummer und eine Zahl prangten und verschiedene Einträge festgehalten waren.
    Die ersten drei Boxen auf jeder Seite waren leer und dunkel, aber in den nächsten schwelte diffuses Licht, und Megan ging mit angehaltenem Atem darauf zu. In der ersten besetzten Zelle saß, zusammengekauert in einer Ecke, ein Tier, von dem sie aus dem Studium wusste, dass es ein Rhesusaffe war. Er schien sie anzusehen, aber es war unmöglich zu sagen, ob sein Blick aus den starren Augen durch sie hindurchging oder ob er sie überhaupt erreichte. Er hatte die Beine angezogen und die Arme und den Schwanz um sie geschlungen, und sein Atem ging so flach, dass Megan ihn nicht erkennen konnte.
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