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Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Titel: Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Autoren: Robert Pragst
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aus dem Rucksack) etwas anzufangen sei.
    Am nächsten Tag um 18   Uhr, vierundzwanzig Stunden nach dem Überfall, war dann alles vorbei. Die Polizei rückte ab und bat sie um eine nochmalige ausführliche Vernehmung in zwei Tagen. In der Kasse fehlten 1500   Euro (etwa die Einnahmen einer Woche). Diesbezüglich hatten sie jedoch Zahlungen von einer Versicherung zu erwarten. Das teure Brillengestell ließ sich leider nicht mehr reparieren, worüber Erika sich sehr ärgerte. Werner meinte, dass sie am nächsten Tag den Laden eigentlich wieder aufmachen könnten. Das Reden tat ihm sichtlich weh. Sie einigten sich darauf, noch zwei Tage damit zu warten.
    Zu Hause warfen sie sich hundemüde auf die Couch vor dem Fernseher. Sie saßen viel enger zusammen als sonst und hatten keine Lust auf Krimi.

|19|
Staatsanwalt in Moabit
    A m 15.   Dezember schien die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel herab. Das Wetter entsprach so gar nicht meiner Gemütslage. Ein trübes und graues Licht, bei dem man einen Elefantenbullen in hundert Metern Entfernung leicht übersehen kann, hätte besser gepasst. Aber auch die Passanten um mich herum, die mit mir vom U-Bahnhof Turmstraße in Richtung Kriminalgericht gingen, wirkten nicht fröhlich beschwingt. Wenn da mal nicht der eine oder andere Angeklagte dabei war. Kurz darauf erreichten wir das Kriminalgericht Moabit. König Friedrich Wilhelm I. hatte 1717 in der Gegend Hugenotten angesiedelt, die Maulbeerplantagen betreiben und Seidenraupen züchten sollten. Sie nannten das Gebiet in Anlehnung an das Alte Testament »Moabiter Land«. Die Gebietsbezeichnung überdauerte die Eingemeindung nach Berlin (1861), die Eingliederung in den Stadtbezirk Tiergarten sowie die jüngste Zusammenlegung zum Bezirk Berlin-Mitte. Mit Moabit verbindet man vor allem das Kriminalgericht und die angeschlossene Justizvollzugsanstalt. Wenn jemand sagt, der oder der befinde sich gerade in Moabit, ist damit in der Regel ein Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt (nicht als Angestellter oder zu Besuch) gemeint.
    Allein die Straßenfront des Kriminalgerichts zur Turmstraße hat die Länge eines kleinen Straßenzugs. Während |20| ich in Richtung Hauptportal an dem Gebäude mit den sechzig Meter hohen Türmen entlangging, sah ich zu den Fenstern hoch, ob vielleicht irgendwo jemand nach dem neuen Staatsanwalt Ausschau hielt. Das war jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft Berlin, die zum großen Teil in dem Gebäude des Kriminalgerichts sitzt, ist die größte in Europa. Ihr gehören ungefähr dreihundertdreißig Staatsanwälte an. Anders ausgedrückt: Man stelle sich alle Staatsanwälte des Bundeslandes Hessen in einem Gebäude vor, dazu die vielen Strafrichter und weiteren Bediensteten, insgesamt etwa fünfzehnhundert Menschen. Aus den Fenstern blickte niemand heraus. Nur die großen von Bendorff geschaffenen Skulpturen »Gesetz« (mit einem dicken Gesetzbuch) und »Macht« (bärtig, mit einem großen Schwert) schauten mich von der Fassade über dem Hauptportal Ehrfurcht gebietend an. Wie magisch sehen sie dem Passanten direkt in die Augen und zwingen die Blicke all jener nieder, die kurz vor dem Betreten des Haupteingangs noch ein letztes Stoßgebet Richtung Himmel schicken wollen.
     
    Als das Kriminalgericht nach vierjähriger Bauzeit 1906 eröffnet wurde, war es die Attraktion in Berlin. Dies galt in vielerlei Hinsicht. Architektonisch war es eine Meisterleistung der Architekten Rudolf Mönnich und Carl Vohl aus der preußischen Bauverwaltung. Der monumentale Bau gilt als Wahrzeichen des Wilhelminismus und wurde schon damals als »kaiserlicher Faustschlag ins Gesicht der Moabiter Arbeiterklasse« kritisiert. Er war der erste Stahlbetonbau auf dem europäischen Festland und das erste elektrisch erleuchtete Gebäude Berlins. Ein eigenes Kraftwerk erzeugte die benötigte Energie, und die Wasserversorgung wurde durch |21| einen hundertzwanzig Kubikmeter fassenden Wasserbehälter in einem achtundvierzig Meter hohen Kuppelbau sichergestellt. Der Gebäudekomplex zieht sich zweihundertzehn Meter in die Länge und ungefähr neunzig Meter in die Tiefe. Die Baukosten beliefen sich auf die damals unglaubliche Summe von 8   597   900   Reichsmark (immerhin ein gutes Drittel der Baukosten des Reichstages).
     
    Nachdem ich die Schleuse im Eingangsbereich passiert hatte, stand ich in der gigantischen Mittelhalle des Kriminalgerichts. Sie ist mit neunundzwanzig Metern immerhin drei Meter höher als das
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