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Auf Amerika

Auf Amerika

Titel: Auf Amerika
Autoren: B Schroeder
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Autobahn gesehen, wo man dagegen war, und gebaut wurde sie doch, und man hat nichts dagegen machen können. Seiler, gib eine Ruh.
    Die Autobahn, so mein Vater, wurde zu Zeiten einer Diktatur gebaut, jetzt haben wir eine Demokratie, da bestimmen wir mit, da müssen wir gefragt werden, da geht das nicht so einfach über unsere Köpfe hinweg.
    Geht’s eben schon, Seiler, das siehst du ja überall.
    Sogar euer Abgeordneter, den ihr mit euren christkatholischen Stimmen gewählt habt, ist auf unserer Seite.
    Schon, aber ausrichten wird er nichts. Die Großkopferten wollen den Flughafen bei sich daheim nicht haben, also kommt er da her. Aus und amen, Seiler. Wir waren, sind und bleiben halt das Scheißhaus von München, sagten sie.
    Bauern! Eure Großväter und Urgroßväter haben sich einmal erfolgreich gegen die Eisenbahn gewehrt. Und sie haben erreicht, dass sie in Hausen nicht gebaut wurde.
    Ja, leider, sagten einige, die wäre jetzt ein Segen, wo viele von denen, die heutzutage von der Landwirtschaft allein nicht mehr leben können, in der Stadt drin arbeiten. Ein Segen wäre die Bahn für die.
    Herbert Seiler führte einen redlichen Kampf. Nach einem Leben voller Niederlagen in läppischen Aktivitäten brauchte er etwas Großes, etwas Bedeutendes, einen Kampf, dessen Dimensionen den Kämpfer wenigstens zum Helden erhoben, wenn schon nicht zum Sieger. Er hat die endgültige Niederlage nicht erlebt. Er starb mit der Hoffnung, Gerichte würden den Flughafen doch noch zu Fall bringen. Er, der als junger Mann in der Nazizeit an fragwürdige Dinge geglaubt hatte, war im Alter ein so geradliniger Demokrat geworden, dass er sogar den Glauben mit ins Grab nahm, ordentliche Gerichte würden für Gerechtigkeit im Sinne und zum Wohle der Bürger sorgen.
    Der Flughafen wurde gebaut. Mancher Hausener fand dort Arbeit. Es kehrte wieder Ruhe ein, eine Ruhe, die heute alle paar Minuten durch ein über das Dorf fliegendes Flugzeug gestört wird, so dass für kurze Zeit eine Unterhaltung auf offener Straße unmöglich ist. So sind die Hausener schweigsamer geworden. Sie bleiben in ihren Häusern, in denen es jetzt Klingeln und Gegensprechanlagen gibt.

81
    Ich fliege nach München.
    Immer noch lande ich mit einem schlechten Gewissen auf dem Großflughafen, als wäre es ein Verrat an meinem Vater.
    Er starb ein halbes Jahr nach meiner Mutter. Ohne sie konnte und wollte er nicht mehr leben. Es war wie bei der Lammermutter. Jahrzehntelang Streit und Zank, ein Nebeneinanderherleben, von Liebe und Rücksicht keine Spur. Als der Lammervater starb, wurde die Lammermutter kurz darauf beim Melken von einer Kuh getreten. Die Verletzung war harmlos. Aber die Lammermutter legte sich hin, stand nicht mehr auf und starb wenige Monate nach ihrem Mann. Mit der Welt hatte sie ihren Frieden gemacht. Seit ein paar Wochen wusste sie auch ihren Sohn Anton gut aufgehoben in einem Grab, wenn auch in einem italienischen.
    Meine Mutter hatte verfügt, dass sie in Berlin im Grab ihrer Eltern beerdigt werden sollte. So ist es geschehen. Dass mein Vater ihr im Tod dorthin gefolgt ist, hat mich erstaunt, denn im Gegensatz zu ihr machte er sich nichts aus Berlin, und er war seit seiner Flucht nie mehr dort gewesen. Es war wohl ein letzter Liebesdienst, den er ihr schuldig zu sein glaubte.
    Manchmal, so auch heute, wenn ich einen Fensterplatz habe, sehe ich im Landeanflug Hausen greifbar unter mir liegen. Ich sehe die Hölle, den Wald hinter meinem Elternhaus, das Haus selbst, die Schuhschachtel, die meine Mutter nie fotografiert hat, die nach dem Tod meiner Eltern tatsächlich, wie mein Vater das immer behauptet hat, der Bank gehörte, ich sehe die Kirche und das Schulhaus, den Friedhof, den man irgendwann einmal erweitert hat, den heruntergekommenen Lammerhof und das Pfarrhaus, dessen Obstgarten man abgeholzt hat, ich sehe die riesige, mit breiter Zufahrtsstraße versehene Lagerhalle im Unterdorf, die das einstige Paradies vom Messmer-Ludwig unter sich begraben hat.
    Mir ist mein Hausen über die Jahre verlorengegangen. Ich werde mir am Flughafen einen Leihwagen nehmen, heute zum Klassentreffen gehen und morgen hinausfahren, nach Hausen, um vielleicht für immer Abschied zu nehmen von dem, was mir mal Heimat war, von den paar Menschen, die ich noch kenne, vom Veit auch, der ein Jahr vor meinem Vater gestorben ist, an einem Donnerstag im Juni 1983.
    Bei der Beerdigung soll es sehr lustig zugegangen sein. Natürlich. Er hatte zwar keine Verwandten, aber er fehlte
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