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Auf Amerika

Auf Amerika

Titel: Auf Amerika
Autoren: B Schroeder
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allen im Dorf, das man sich ohne ihn kaum vorstellen konnte.
    Am Nachmittag jenes Tages half er beim Schlachten einer Sau, putzte danach das Schlachthaus, mistete den Stall aus, zog dann, das wunderte die Wirtin, seinen Sonntagsanzug und die schon viermal aufgedoppelten Sonntagsschuhe an, ging wieder in die Wirtschaft hinunter und setzte sich, wie jeden Tag, an seinen Platz am Bauerntisch und schwieg lange.
    Jetzt spinnt er, er denkt, dass Sonntag ist, sagte die Wirtin zum Wirt und zu ihrer Tochter.
    Auf die Frage meines Vaters, wie es ihm denn gehe, soll er gesagt haben: Zu gesund zum Sterben und zu alt zum Arbeiten.
    Aber erstens arbeite er doch erstaunlicherweise immer noch viel für sein Alter und zweitens, davon verstehe er was, so mein Vater, sei das Leben auch ohne Arbeit lebenswert.
    Das verstand der Veit nicht.
    Gerne hätte die Wirtin an dieser Stelle wieder einmal einen Seitenhieb der Art gelandet, dass sie in etwa sagte, es müsse einer ja nur sein Geerbtes hernehmen, dann könnte er ja ein Leben ohne Arbeit haben. Doch sie hat es längst aufgegeben, aus dem Veit irgendeine die Wahrheit zutage fördernde Reaktion provozieren zu wollen. Er ließ sich ja auf nichts ein.
    Keiner sprach mehr von den zehn Tagen, die der Veit verschwunden gewesen war, von Amerika gar oder von einem Erbe. Aber es fiel auf, dass die Wirtsleute besser mit dem Veit umgingen, als das bisher der Fall gewesen war. Was er denn heute essen wolle, ob er noch ein Bier möchte, ob man die Kammer oben nicht einmal renovieren, wenigstens neu weißeln solle, er müsse es nur sagen. Er nahm das alles hin, schwieg und lächelte in sich hinein, denn es fiel ihm natürlich auf, dass sich seine Situation verbessert hatte, und er wusste, warum. Und er genoss es.
    Dann sei der Veit, erzählte der Vater später, ungewöhnlich früh in seine Kammer hinaufgegangen, nachdem er noch mal die Tatsache gepriesen habe, dass er jetzt, wenn er schon sterben müsse, wenigstens wisse, wo er hinkomme, denn der Pfarrer und der Bürgermeister persönlich hätten ihm ein eignes Grab, allein nur für ihn, versprochen.
    Auf die Frage der Bauern, warum er denn jetzt schon ins Bett gehe, soll der Veit geantwortet haben:
    Sterben braucht Zeit.
    Darauf hätten die Bauern gelacht, einer habe gesagt, Veit, du wirst hundert, wer von dir einmal erbt, der muss lang warten.
    Da habe der Veit gelächelt, geheimnisvoll, wie mein Vater betonte, dann sei er in seine Kammer hinaufgegangen und in dieser Nacht gestorben. Er hatte sich aufs Bett gelegt, im Sonntagsanzug, und er war gestorben. In diesem Sonntagsanzug, den er über fünfzig Jahre lang getragen hatte, haben sie ihn dann auch begraben.
    Und, wie gesagt, es soll lustig zugegangen sein.
    Ich war nicht beim Begräbnis. Darüber war ich traurig. Mein Vater hatte es nicht für nötig gehalten, mir Veits Tod mitzuteilen. Erst Wochen später, als meine Mutter schon zum Sterben im Krankenhaus lag und wir uns in München im Krankenhaus trafen, sagte er eher beiläufig, ach übrigens, der Veit ist auch neulich gestorben. Zum einen störte mich das Auch, da meine Mutter ja noch nicht tot war, und zum anderen war ich wütend, dass er mir von Veits Tod so nebenbei erzählte.
    Vererbt hat er nichts, wahrscheinlich war er gar nicht in Amerika, sagte er.
    War er schon.
    Woher willst du das denn wissen?
    Ich weiß es von ihm.
    Nein!? Erzähl.
    Es ist ein Geheimnis.
    Er ist tot, mein Gott.
    Trotzdem, es bleibt ein Geheimnis.
    So ein Unsinn.
    Wusste er denn nicht, was der Veit für mich bedeutet hat? Nein, ich glaube, er wusste es nicht, wie er auch damals, als ich ein Kind war, nichts über mich wusste.

82
    Das Klassentreffen findet im Biergarten einer Brauerei statt. Alle sind gekommen. Dreißig Jahre haben wir uns nicht gesehen, aber wir erkennen uns sofort. Die anfängliche Fremdheit verfliegt schnell, denn wir halten uns nicht damit auf, uns von unserem jetzigen Leben zu erzählen, sondern sind nach kürzester Zeit wieder die Schüler von damals. Würde man uns in unser damaliges Klassenzimmer setzen, wir würden sofort funktionieren.
    Weißt du noch?
    Weißt du noch, wie es im Chemieunterricht dem Studienrat Pfister bei einem Experiment die halbe Hand weggerissen hat? Weißt du noch, wie du in die Ostara aus der Klasse unter uns verliebt warst und sie dir im Pausenhof eine runtergehauen hat, weißt du noch, wie die junge Mathematiklehrerin eine Affäre mit dem Kohlmeier aus der Parallelklasse hatte und beide von der Schule
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