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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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Sie’s mal Ihrer Frau zeigen?«
    »Ich habe jetzt einfach keine Zeit für so etwas.«
    »Nur einen Blick soll sie draufwerfen. Sitzt großartig an den Schultern.«
    Ich wollte ihm nicht die Freude nehmen.
    »Sylvia!« rief ich und betrachtete mich im Dielenspiegel. »Komm mal her und sieh dir das an.«
    Sie rief von oben: »Wie lange dauert es noch? Ich habe Crème St. Germain und côtelettes d’agneau Marie Louise gekocht, und alles wird kaputtgehen.«
    »Ich bin noch nicht soweit.«
    Sie stand oben an der Treppe.
    »Und was treibst du jetzt?«
    »Gefällt es dir?«
    »Miss Nisbet sagt, es sind noch über zwanzig Leute da.«
    »Ja, gewiß«, meinte Greville. »Und hier sehen Sie das beste
    Tweedjackett mit Komplimenten von Greville, Chalk & Jones. Wie finden Sie den Rücken?«
    »Tadellos.«
    »Ich komme in einer Stunde wieder.«
    Eine Arztpraxis bringt so manche Kompensationen. Mr. Grevil-les Maßanzug war zwar der erste, den ich bekam, aber schon seit Jahren wurde ich von verschiedenen Patienten gut behandelt. Mrs. Peck war zuständig für Taschen, Mr. Collins für Autozubehör, Mrs. McClean für Kinderkleidung. Ganz abgesehen von Geschenken zu aktuellen Anlässen waren wir bereits vollständig mit Geschirr ausgestattet, an das wir gratis oder zu Vorzugspreisen gelangt waren. Alles beruhte auf Gegenseitigkeit: ich behandelte Ginger Johnsons Furunkel, und er reparierte unsere Installation; ich löste Ernie Bolts Eheproblem, er strich dafür mein Wohnzimmer; wir wußten immer, an wen wir uns wenden mußten, wenn es um Reparaturen oder Verschönerungen in Haus oder Garten ging. »Sie behandeln mich, Herr Doktor, dafür helfe ich Ihnen.« Das traf auch auf den Metzger zu, der uns die besten Stücke durch Sid überbringen ließ, dessen Zwölffingerdarmgeschwür ich behandelt hatte; und auch auf den Gemüsehändler, dessen schönstes Obst den Weg durch eine unbeschreiblich dankbare Mrs. Parsons zu uns fand, obwohl ich ihren Gatten leider nicht von einem Karzinom am Dickdarm hatte retten können; und auch auf das Süßwarengeschäft, wo Mrs. Pennyquick stets den Kindern etwas Süßes zusteckte.
    Die Anprobe des Jacketts war zur Zufriedenheit verlaufen, Mr. Greville legte es in den Karton zurück und rollte den Ärmel auf. »Kann ja nichts schaden, nachdem es sich alle machen lassen.«
    Zehn nach zehn schlossen wir die Türen ab.
    »Ich glaube kaum, daß ich das weiter aushalten werde«, sagte Miss Nisbet. »Ronald ist schon ganz böse.«
    »Wir müssen doch ganz gewiß schon unsere sämtlichen Patienten geimpft haben.«
    Miss Nisbet schüttelte den Kopf. »Dreihundertneunundzwanzig.«
    »Ist das alles.«
    »Das ist alles.«
    Ich versuchte auszurechnen, wieviel Honorar das sein würde.
    »Sie gehen aber jetzt schleunigst nach Hause.«
    »Vielen Dank«, sagte Miss Nisbet. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen.
    »Es tut mir leid, das alles.«
    »Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich weiß bloß nicht mehr, was ich Ronald sagen soll.«
    »Vielleicht ist es bald vorüber. Seit dem letzten Wochenende sind keine neuen Fälle gemeldet worden.«
    »Hoffentlich. Gute Nacht, Doktor.«
    »Gute Nacht, Miss Nisbet. Und danke für Ihre Hilfe.«
    Ich hatte kaum die Tür geschlossen, als auch schon das Telefon läutete. Ich würde mich mit Händen und Füßen weigern, heute abend nur eine einzige weitere Impfung zu machen. Es handelte sich jedoch nicht ums Impfen. Die Wirtin von Mrs. Kahn ließ fragen, ob ich so schnell wie möglich kommen könne. »Sie sieht entsetzlich elend aus«, sagte Mrs. Petersen.
    Ich überprüfte den Bestand an schmerzstillenden Mitteln in meiner Tasche und machte mich unverzüglich auf den Weg zu Mrs. Kahn. Ich wußte, daß sie sterbenskrank war und hatte ihr versprochen, sie in ihrer letzten Stunde nicht allein zu lassen. Obwohl es in meinem Beruf natürlich nicht an traurigen Fällen mangelt, war der von Eugénie Kahn vielleicht einer der traurigsten.
    Sie hatte vor ungefähr zwei Jahren ein möbliertes Zimmer in Mrs. Petersens Haus bezogen; sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Nähen und Abändern von Kleidern. Sie war eine schöne, große, blonde Frau. Wenn man sie sah, hätte man ihre Geschichte kaum geglaubt. Sie war mir gleich bei meinem ersten Besuch sympathisch gewesen. Obwohl sie schon damals starke Schmerzen in der Seite hatte und kaum fähig war zu sprechen, hatte sie mich an-gelächelt. Ich hatte sie auf Ende dreißig geschätzt; in ihrem Zimmer herrschte ein Durcheinander von Stoffresten,
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