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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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Hände über die Augen. »Bitte, ich bitte Sie, Doktor, nicht ins Hospital. Ich zittere, wenn ich nur daran denke.«
    Sie hatte keine Verwandten, kaum Freunde, so versprach ich ihr, daß ich, komme was wolle, in den letzten Tagen bei ihr sein würde.
    Als ich meinen Wagen vor dem Haus der Petersens parkte, glaubte ich diesen Augenblick gekommen.
    Ein Blick in ihre Augen genügte beim Eintritt in das Zimmer, das, wie üblich, mit Stoffrestchen übersät war, um zu erkennen, daß auch sie es wußte.
    Sie wandte ihre Augen zu Napoleon, der auf seinem üblichen Platz saß.
    »Bitte«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum zu verstehen war, »für Ihre Kinder.«
    Ich sagte nichts. Penny und Peter waren zu alt für Spielzeugbären. Vielleicht hatte sie das vergessen.
    »Für die nächsten«, sagte sie, meine Gedanken ahnend, »für die Allerkleinsten, die noch kommen werden.«
    Ich nahm das Pelztierchen, das so viel Trauriges mit hatte anse-hen müssen, und stellte es neben meine Tasche.
    Ich las zum letzten Mal die Nummer auf ihrem Arm, die ich auswendig konnte, und gab ihr eine schmerzstillende Spritze. Sie schloß die Augen, unmittelbar darauf begann sie zu röcheln. Das Ende war da. Ich mußte kaum eine Stunde warten, bis im Raum völlige Stille war. Ich rief nach Mrs. Petersen, nahm meine Tasche zur Hand und Napoleon mit den schwarzen Tupfen auf dem Ohr unter den Arm.
    Während des Nachhauseweges hörte ich immer wieder ihre Stimme: »Für die Allerkleinsten, die noch kommen werden.« Ich hatte ihr nie gesagt, daß wir keine Kinder mehr haben würden. Nach der Geburt der Zwillinge, während Sylvia krank gewesen war, hatte man ihr erklärt, daß eine neue Schwangerschaft zu gefährlich für sie sei. Wir hatten einen Buben und ein Mädchen und waren dankbar dafür. Gelegentlich ertappte ich sie dabei, wie sie traurig auf spielende Kinder oder Babys im Kinderwagen blickte, und ich wußte dann, was in ihr vorging. Ich verbarg deshalb Napoleon in einer Schublade meines Schreibtischs im Sprechzimmer und bedeckte ihn mit Formularen.
    Sylvia stellte eine dampfende Suppenschüssel vor mich hin. Einen Augenblick saß ich regungslos da und dachte an das, was hinter mir lag.
    »Eugénie ist tot«, sagte ich.
    »O nein!«
    Wir saßen da und blickten uns an. Das Leben mußte weitergehen. Ich nahm den Löffel zur Hand.
    »Was für eine Suppe ist das?« fragte ich.
    »Crème St. Germain. Das sagte ich dir schon«, sagte sie naserümpfend und leise in der Suppe rührend.
    »Und was ist das?«
    Ich hielt eine verklebte Glasphiole hoch.
    »Serum«, sagte Sylvia durch die Tränen, die ihr über die Wangen rollten. »Es muß aus dem Kühlfach hineingefallen sein.«
     

4
     
    Ehe wir uns versahen, war der Februar da. Die Impfungen wäret teils positiv, teils negativ verlaufen, es hatten sich Bläschen gezeigt bei manchen allerdings auch nicht, und bald war alles vergessen Beim Tanzen war es schick, ein kleines Heftpflaster auf dem Ober arm zu tragen. Die Panik hatte nachgelassen. Die Häufigkeit der Impfungen verhielt sich zu der anderer Beschwerden nicht mehr wie zehn zu eins, sondern wie eins zu zehn. Es war der Schluß punkt unter eine Zeitspanne, die keiner von uns so leicht würde vergessen können. Sie ließ sich nur mit der Masernepidemie vor fünf Jahren vergleichen und übertraf sogar jenen Winter, als jeder, aber auch jeder die Grippe gehabt hatte. Peu à peu, wie man sagte normalisierte sich die Besucherzahl in den Sprechzimmern wieder auf die im Winter übliche Anzahl. Ich konnte schon allein den Ge danken an nackte, vorgebeugte Schultern nicht mehr ertragen und auch für längere Zeit keine gelben Karten mehr sehen.
    »Was werden wir mit dem Geld anfangen?« fragte Sylvia, die den Gedanken, etwas zu sparen, haßte.
    »Ich weiß nicht. Du siehst einen gebrochenen Menschen vor dir Und außerdem haben wir das Geld ja noch nicht, und wir werdet es auch vor dem nächsten Vierteljahr nicht erhalten.«
    »Aber einmal werden wir es bekommen.«
    »Ich hoffe das zuversichtlich. Hoffentlich werde ich nicht del reichste Mann auf dem Friedhof sein.«
    »Hör auf zu unken. Du hast die letzte Nacht ganz gut geschlafen.«
    »Die meisten Leute schlafen nachts. Das hast du nur vergessen] Ich weiß wirklich nicht, warum ich diesen verrückten Posten hier angenommen habe.«
    »Du weißt doch, daß du deine Arbeit liebst.«
    »Ich weiß es, ja.«
    »Laß uns fortgehen.«
    »Fortgehen? Wie meinst du das?«
    »Mit dem Geld.«
    »Mit welchem
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