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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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    Mit einer Arztpraxis verhält es sich wie mit der Apfelernte: es gibt gute und schlechte Jahre. Das Jahr, das mit einer vermeintlichen Pocken-Epidemie begann und mit einem Ereignis endete, das aufregend genug war, um die Zeitungsreporter auf unserem Gartenweg tagelang Schlange stehen zu lassen, brachte beides. Es war ein finanziell gutes Jahr, und wir ernteten die Früchte der harten Arbeit, die - wie ich hoffe - von mir ordentlich getan worden war; es war gut, weil ich nicht der Koronarthrombose zum Opfer fiel, die ich täglich befürchtet hatte; es war gut, weil es uns schließlich mit einer völlig unerwarteten Belohnung verließ. Es war schlecht, weil während seiner ersten sechs Wochen keine Mahlzeit länger als dreiundeinehalbe Minute dauern durfte, schlecht, weil ich unter sehr ungewöhnlichen Umständen meinen Partner verlor; schlecht, weil ich am Jahresende nur noch ein Schatten meiner selbst war, so daß ich mich meiner Frau und meinen Kindern beinahe hätte noch einmal vorstellen müssen. Rückblickend überrascht es mich, daß wir es überstanden haben.
    Alles in allem: es war ein Jahr wie selten eines.
    Dabei begann es ganz alltäglich.
    Weihnachten war still verlaufen, ohne Schnee und Kälte; auf unserer Anrichte reihten sich wie üblich die geschenkten Flaschen, neben denen ein Paar halbverunglückter, aber mit Liebe von einer neunzigjährigen Dame gestrickte Socken und einige zitronengelbe Seidenpyjamas aus Hongkong lagen.
    Wie alljährlich, hatten überall die Besuche von Verwandten stattgefunden, man hatte Plumpudding gegessen und sich in Weihnachtsstimmung versetzt, und nach der Abreise durfte man hinter ihnen aufräumen und seufzte: »Nie wieder! Das nächste Mal bleiben wir zu Weihnachten allein.«
    Der Neujahrstag fiel auf einen Samstag, und da ich keinen Bereitschaftsdienst am Sonntag hatte, konnte ich es mir leisten, am Neujahrsmorgen im Bett zu bleiben. Und keine Macht der Welt hätte mich zu bewegen vermocht, aus dem Bett aufzustehen.
    »Mein Gott«, sagte ich zu Sylvia, »ich bin krank, ernstlich krank. Spring hinunter ins Sprechzimmer und hole mir das >Lexikon der Ärztlichen Praxis«.«
    »Alle sechsundzwanzig Bände?«
    »Schlag unter >Tumor< nach, >Gehirntumor<. Und vergiß nicht, eine Schüssel mitzubringen. Und zieh die Vorhänge zu. Und sage den Kindern, ich brauche absolute Ruhe. Und, Sylvia, ich sollte auch an mein Testament denken... «
    Sie war schon gegangen. Ich überlegte, ob sie wohl wieder heiraten würde und ob es wieder ein Arzt sein würde. Wahrscheinlich aber hatte sie die Nase voll, das arme Ding. Ich fragte mich, wie er wohl aussehen und ob sie überhaupt noch einen Gedanken an mich verschwenden würde.
    Sie kam mit der Schüssel und einer Flasche Coca-Cola zurück.
    »Wo ist das Lexikon?«
    »Du brauchst kein Lexikon, um einen Kater zu diagnostizieren.«
    »Sei nicht so gemein zu mir.«
    »Das bin ich nicht. Wie war doch ihr Name?«
    »Wessen Name?«
    »Nun, der Anästhesie-Ärztin, deren Augen du dreiundeineviertel Stunde lang ausgelotet hast.«
    Ich erinnerte mich dunkel an eine Party.
    »Blond?«
    »Ja - nur der Haaransatz war dunkel. Ich bezweifle, daß sie sich heute morgen wohl fühlen wird. Trink das, aber langsam.«
    Ich hob meinen Kopf, und tausend Nadeln stachen in meinen Augen.
    »Es wäre wirklich besser, wenn du mir das Lexikon bringen würdest. Und sag Robin Bescheid.«
    »Ich habe nicht die Absicht, ihn am Sonntag zu stören.«
    »Er muß doch wissen, daß ich morgen keine Sprechstunde halten kann.«
    »Du wirst morgen Sprechstunde halten. Trink noch einmal!«
    »Ich kann nicht. Ich bin krank.«
    »Du wirst krank werden, wenn du nicht folgst.«
    »Vielleicht ist eine Operation möglich. Ein ziemlich hoher Prozentsatz ist operabel.«
    Sylvia schnaubte. »Es hat mir schon gereicht, dich nach Hause fahren zu müssen, dich ins Bett zu bringen und zu pflegen, und jetzt muß ich mir noch dieses Melodrama über Gehirntumore anhören. Du hast einen ganz gewöhnlichen Feld-Wald-und-Wiesenkater, und den hast du auch verdient. Und jetzt bleib du nur hier liegen und erhole dich, während ich mich ums Essen kümmere.«
    »Mach dir keine Mühe mit meinem Essen. Ich frage mich, ob
    Newton besser ist als Hackforth-Smith. Ich kenne mich unter den Gehirnchirurgen nicht so aus. Newton ist vielleicht in der Theorie besser, aber Hackforth-Smith ist als ausgezeichneter Techniker bekannt. Im ganzen gesehen kommt vielleicht doch Hackforth-Smith in Frage.«
    Sylvia band
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