Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
Vom Netzwerk:
begonnen.«
    Gegen vier Uhr war das Wartezimmer bereits überfüllt. Ich mußte die Leute hereinlassen, weil sie auf der Straße den Verkehr behinderten. Zum erstenmal fühlte ich mich von einer Panik ergriffen, als ich überlegte, wie lange ich wohl mit dieser Situation noch fertig werden konnte. Ich versuchte eine halbe Stunde auszuruhen, aber die stereotypen telefonischen Anfragen gewährten mir keine Gnadenfrist.
    Gegen halbvier Uhr entschloß ich mich, mit Bert Wilcox anzufangen, weil ich sonst nicht fertig werden würde.
    So wurde es Abend und wieder Morgen. Der zweite Tag begann.
     

3
     
    Rückblickend ist es möglich, auch die komische Seite dieser Situation zu sehen. Aber damals war es überhaupt nicht spaßig. Ich hatte nie gewußt, daß ich so viele Patienten hatte. Es schien, als seien sie alle in der Sprechstunde erschienen. Ich träumte, ich hätte so viele Impfungen notiert, daß ich sogar während des Schlafens noch weiterimpfte. Dieser Alptraum hielt volle drei Wochen an. Was während dieser Zeit mit all den anderen Kranken und Schmerzgepeinigten geschah, ist ein Rätsel geblieben. Alle waren von der Angst vor den Pocken so erfüllt, daß sie darüber alles andere vergaßen. Robin und ich trugen zwar die Hauptlast, wir arbeiteten bis tief in die Nacht, doch auch Miss Nisbet kämpfte heldenhaft mit dem Telefon, dessen zwei Anschlüsse praktisch ständig belegt waren, und Sylvia übernahm den Telefondienst, wenn Miss Nisbet nach Hause gegangen war.
    In der zweiten Woche gingen unsere Zwillinge wieder zur Schule. Das Resultat war, daß kurz darauf fast alle Kinder aus der Schule bei mir erschienen, die bis jetzt noch nicht geimpft worden waren.
    »Wir hielten es für besser, sie herzubringen«, sagten die Mütter, »da Penny und Peter auch geimpft worden sind.«
    Ich stellte Penny im Badezimmer zur Rede. »Was bedeutet das Geschwätz?«
    »Was meinst du damit?«
    »Du hast offenbar deinen Kameradinnen erzählt, daß du und Peter geimpft worden seid, und das macht uns nun zusätzliche Arbeit.«
    »Ihre Mütter haben ihnen gesagt, sie sollen uns fragen. Schließlich sind wir ja geimpft.« Sie betrachtete die winzige weiße Narbe auf ihrem Oberarm.
    »Wann?«
    »Als wir Babies waren.«
    »Du weißt ganz genau, daß das nicht damit gemeint war.«
    »Nun, die ewige Fragerei wurde uns lästig. Und warum können wir denn nicht auch geimpft werden? Die anderen werden’s doch auch.«
    »Dank deiner Auskünfte.«
    Die Versorgung mit Serum verlief jetzt zufriedenstellend, und wir kamen mit den ausgegebenen Mengen aus. Die gelben Karten stapelten sich ins Unendliche. Ich bat die Patienten, weitere Karten zu holen. Angesichts des Notstandes, an den ich allerdings persönlich noch immer nicht glaubte, verhielten sie sich auf das Kameradschaftlichste.
    Als Robin abends einmal dienstfrei hatte, verminderte sich die Schlange im Wartezimmer noch langsamer als sonst.
    »Ein bißchen unhygienisch, was?« sagte Major Pomfret, als ich einen Tropfen Serum auf seinen Arm blies und einen Kratzer durchzog.
    »Das ist die übliche Methode«, sagte ich, »und nicht so schlimm, wie es aussieht.«
    Es war die praktischste Methode der Impfung, und Major Pomfret war der erste, der daran etwas auszusetzen hatte.
    Mr. Greville von Greville, Chalk & Jones kam als nächster. Er brachte ein Paket mit.
    »Bitte das Jackett ausziehen«, sagte ich und öffnete eine neue Ampulle.
    »Nein, nein. Ziehen Sie das Ihre aus«, sagte Mr. Greville.
    »Hören Sie, ich habe keine Zeit für Scherze. Ich hab noch nicht mal gegessen.«
    »Ich auch nicht. Ich warte draußen seit anderthalb Stunden. Ich bringe Ihren Anzug.«
    Ich erinnerte mich dunkel. Ich hatte Mr. Grevilles Mutter, die bei ihm wohnte, an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung behandelt. Vor einigen Wochen, als Mr. Greville in die Sprechstunde kam, hatte er sein Maßband mitgebracht und mir einen Anzug angemessen.
    Er holte das Jackett aus dem Karton, auf das weiße lange Baumwollstücke aufgeheftet waren.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich zögernd, »das Wartezimmer ist noch voller Menschen.«
    Er griff nach meinem Kittel. »Kittel ausziehen.«
    Ich tat, was mir geheißen wurde. Er hielt mir das neue Jackett hin, aus herrlichem Tweed gearbeitet. Ich steckte meine Arme hinein, er warf einen fachmännischen Blick darauf und riß verächtlich einen Ärmel heraus. Dann bestrich er mich da und dort mit weißen Kreidezeichen und stach mich mit Nadeln.
    »Sitzt fabelhaft, ganz fabelhaft. Wollen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher