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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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zugeschnittenen Kleidungsstücken, kopflosen Kleiderpuppen und sonstigen Näh-utensilien.
    »Ich glaube, es geht ihr sehr schlecht, Herr Doktor«, hatte Mrs. Petersen damals gesagt, als sie mich hereinließ. »Sie kann vor Schmerzen nicht sprechen, und ich konnte sie nicht einmal ins Bett bringen. Ich habe ihr gesagt, daß Sie der beste Arzt hier im Bezirk sind.«
    Rasch war ich die Treppe hinaufgestiegen.
    »Schmerzen!« war alles, was sie unter Stöhnen sagen konnte.
    Ich hatte sie untersucht, so gut es möglich war, und eine vorläufige Diagnose auf Gallenblasenkolik gestellt, die sehr ernste Folgen haben konnte.
    Ich mußte ihr eine Spritze geben. Sie trug eine weiße, rückwärts zugeknöpfte Bluse, ich öffnete die Knöpfe, schob ihren Ärmel hoch und fühlte mich auf einmal um zwanzig Jahre zurückversetzt: ihr Arm war als sichtbares Zeichen der menschlichen Grausamkeit mit einer siebenstelligen Nummer tätowiert. War es Bergen-Belsen oder Theresienstadt, Auschwitz oder Ravensbrück? Aber was bedeutete das schon!
    Langsam waren ihre Schmerzen abgeklungen. Ich zog ihren Ärmel wieder über das Schreckensmal und half ihr, als sie ruhiger wurde, ins Bett.
    Sie hat mir ihre Lebensgeschichte an diesem Abend nicht erzählt, erst später, als wir Freunde geworden waren. Sie machte für Sylvia alle Änderungen und verbrachte viele Abende bei uns.
    Es stellte sich heraus, daß sie in Bergen-Belsen gewesen war. »Sie nannten mich den >Lumpensammler<«, erzählte sie uns und lächelte ein bißchen. »Ich habe mich immer für Kleider interessiert, und ich glaube, das Sammeln von Stoffstückchen und Restchen oder eigentlich von Fetzen hielt mich irgendwie aufrecht. Mein größter Schatz war eine Nähnadel, die ich aber verstecken mußte.«
    Sie erzählte mir bei verschiedenen Gelegenheiten von dem Leben unter den Nazis, weniger allerdings von ihrer eigenen Person, als von den Leuten, deren Leiden noch schlimmer gewesen waren als die ihren. Auf dem Regal neben ihrem Bett stand ein kleiner schwarz-weißer Waschbär. Eines Tages nahm ich ihn gedankenverloren in die Hand. Was sie mir an diesem Tage erzählte, ließ mich erzittern. Es war das einzige Mal, daß ich Haß in ihrer Stimme hörte. Als sie ins Konzentrationslager eingeliefert wurde, hatte sie einen Mann und ein Kind, das damals ein Jahr alt war. Ihr Mann, der nicht sehr kräftig war, überstand Hunger und Elend keine sechs Monate; sie blieb mit ihrem Kind allein, für das sie bettelte, borgte und stahl, um es am Leben zu erhalten.
    »Ich war entschlossen«, sagte sie, »mit Solange zu überleben. Durch Beobachtung hatte ich herausgefunden, daß der Wille zum Überleben die eine Hälfte des Kampfes war. Ich habe Solange nie allein gelassen, nicht für eine Minute, sie war ein Knochenbündel mit großen blauen Augen, die mich vertrauensvoll anblickten. Einige der Wächter waren freundlich, einmal gaben sie ihr sogar Schokolade. Eines Tages aber stellten sie ein wirkliches Tier in Uniform vor unseren Wohnblock. Er sagte, daß ich zu einer Arbeitsgruppe gehen solle. Ich erklärte ihm, daß ich Solange nicht allein lassen könne. Laß sie in der Baracke, sagte er, man wird schon auf sie aufpassen. Alleinlassen? Ich lachte. Das hätte ich nicht tun sollen. Er legte sein Gewehr nieder, riß Solange aus meinen Armen und stieß ihren Kopf mit aller Kraft auf den Boden.« Sie blickte den kleinen Waschbär an. »Ich mußte ihn aus ihrem Ärmchen reißen. Mein Mann hatte ihn ihr zum ersten Geburtstag geschenkt. Er heißt Napoleon.«
    Ich stellte das Stofftier vorsichtig an seinen Platz neben dem Bett zurück.
    Schließlich sagte ich: »Sie sollten wieder heiraten. Kinder haben.«
    »Ich bin noch nicht am Ende meiner Geschichte. Ich sei krank, sagten sie und brachten mich in die Krankenbaracke, wo ich sterilisiert wurde. Das war mein Krieg.«
    Es mochte ihr Krieg gewesen sein, aber damit war ihr Kampf noch nicht zu Ende. Die Untersuchungen ergaben, daß ihr Körper, dem so viel zugemutet worden war, vom Krebs befallen war, der sich langsam ausbreitete. Sie hatte verlangt, ihr die Wahrheit zu sagen, und ich hatte es getan. Sie blieb ungerührt. »Wenn man wie ich mit dem Tod gelebt hat, der so alltäglich war wie Essen und Trinken, fürchtet man sich nicht. Aber im Lager waren wir alle Todesgefährten. Und hier fürchte ich mich davor, allein sterben zu müssen.«
    »Fürchten Sie sich nicht«, sagte ich. »Ich werde Sie ins Hospital bringen, wenn es soweit ist.«
    Sie legte ihre
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