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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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letzten Jahres die Nachricht von Schlingensiefs Krebserkrankung in die Öffentlichkeit gelallt hatte, konnte dieser die Instant-Anteilnahme vom Schlage »Krebs-Drama um Skandal-Regisseur« bald düpieren und abschütteln, indem er auch diese Extremsituation zu übersetzen und umzusetzen verstand: in die Inszenierungen »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« und »Mea Culpa«. Und nun in dieses Buch. Da erschrak sogar das Feuilleton und verkniff sich überraschenderweise mal die Billigdeutung »Nun vermarktet er auch noch seine Krankheit« – nein, die Kritik schlug nun sakrale Töne an, mitunter ekelerregend einfühlsam, es wurde offenbar gleichsam Abbitte für früheres Nichternstnehmen des Künstlers geleistet; waren vorangegangene Arbeiten immer wieder als bloß albern und pubertär abgetan worden, so nannte man diese neueren Arbeiten im Gleichschritt sicherheitshalber »verstörend«.
    Hatte er sich nicht auch in Bayreuth schon ganz manierlich betragen? Wird er nicht formal immer konventioneller und stimmt unserem bildungsbürgerlich gestrengen Bewertungssystem somit zu? Spät, aber doch, hat er den rechten Pfad gefunden, so lasset uns ihn denn in unsere klebrigen Kulturbetriebskrakenarme schließen! Aber auch das staatlichste Staatstheater wird sich mit Schlingensief immer ein trojanisches Pferd ins Haus holen. Wer Schlingensiefs Arbeiten über die Jahre verfolgt hat, sich mit seinem umfangreichen Werk, den Stücken, Filmenund Shows, ernsthaft beschäftigt hat, kann sich nicht darüber wundern, dass und wie er auch die Krebserkrankung zum Gegenstand seines künstlerischen Schaffens macht. Es ist vielmehr zwingend, dass er auch diese finale Zumutung ummünzt in Kunst und dadurch nutzbar macht. Dass seine jüngeren Arbeiten die Form nicht mehr grundsätzlich brechen, belegt ja nichts weiter als seinen Sinn für Musikalität: Besteht doch der erfrischende Skandal hier schon im Thema selbst – über das Sterben spricht man nicht. Tod geht immer, ein knallender Begriff, stets richtig und nie riskant; aber das Sterben, das langsame Kraftverlieren? Schwierig. Also ein Fall für Schlingensief.
    Es ist ja geradezu rührend, welche Gartenzaunübertritte ihm früher – mal anerkennend, meistens aber abschätzig – als »Tabubruch« ausgelegt wurden. Er war ein Schmerzensmann, immer schon: Seit Jahrzehnten macht er die ihn aktuell am stärksten quälende Wunde zum Aufführungsort; waren es Wunden der Gesellschaft (Inszenierungen mit Arbeitslosen, Behinderten oder Neonazis), bezichtigte man ihn der Effekthascherei; thematisierte er ureigene Wunden (zum Beispiel den Tod seines Vaters), warf man ihm Exhibitionismus vor.
    Doch jetzt, da der Regisseur zugleich Held des Ausgangsmaterials ist, des sich und ihn unerbittlich fortschreibenden Dramas, des ihm ins Gesicht geschriebenen Kampfes gegen die tödliche Krankheit, und der Radiologe ist der Inspizient – da werden auch die Instrumentarien der Kritik außer Kraft gesetzt. Schlingensief rekapituliert sein Leben und Werk in einer Härte, dass niemand bei Sinnen sich da noch wird einmischen wollen, ein Verriss ist eigentlich nur noch von Maxim Biller zu erwarten. Denn Schlingensief spricht in diesem Buch so ungeschützt, da gibt es eigentlich nichts mehr zu beurteilen. Was weiß man denn schon? Früher hätten sie ihm so ein Zitat um die Ohren gehauen: »Jesus hat Leiden produktiv gemacht. Und das ist toll.« Es hätte ein John-Lennon-artiges Missverständnis gegeben.
    Geht da einer zu weit? Aber sicher! Da geht einer weiter als wir alle, und endlich mal kann sich ihm kein Schlaumeier in den Weg stellen,denn dort, wo Schlingensief diesmal ist, da war der Schlaumeier selbst ganz gewiss noch nicht.
    Schlingensiefs Kampf gegen den Tod, sein Kampf ums Leben, ist eine exemplarische Schlacht. Klar, nicht jeder Krebskranke hat eine Oper vom Bett aus zu inszenieren oder bekommt Besuch von Helge Schneider und Patti Smith, Anrufe von Alexander Kluge und Peter Zadek und eine Mail von Luc Bondy. Das ganze ist natürlich auch ein Theaterstück. Doch all sein Fluchen und Sehnen, Hoffen und Hadern ist allgemeingültig. Man liest es eben nicht als Beantwortung der Frage »Wie geht es Christoph?«, merkwürdig – nein, gar nicht, schlicht Kennzeichen großer Kunst, bedeutender Literatur: eines Menschen Fall als Fall der Menschheit.
    Überhaupt sehr töricht waren die an Schlingensief über Jahre klebenden Etikettierungen »Provokateur« und »Enfant Terrible«, und doch ist
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