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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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sitzen können, früher DDR-Gebiet.
    Kluge: Es hätte zu jedem Zeitpunkt schiefgehen können. Sie brauchen sich nur vorzustellen, wir hätten damals schon Terroristen gehabt, oder eine andere Art von Terroristen. Mit ein, zwei Attentaten hätten die das Ganze in einen großen Krieg ausarten lassen können. Da haben viele aufgepasst in der bewaffneten Nacht. In der Volksarmee gab es ja Leute, die sagten, »Wir können die Panzer ausrücken lassen«.
    Stuckrad-Barre: Wenn wir uns heute an den Mauerfall erinnern, kommt uns das Wissen über den weiteren Verlauf in die Quere, das manipuliert die Erinnerung. Können Sie ein Gefühl beschreiben, das Sie damals hatten?
    Kluge: Ich hatte mich in der Bonner Republik, die ein Rechtsstaat geworden war, recht gut eingerichtet und habe mich eigentlich bedroht gefühlt durch die Ausweitung. Meine glücklichste Zeit war wohl, als ich 14 Jahre alt war und wir unter der Eisernen Lunge der alliierten Besatzung überhaupt nichts selber bestimmen konnten, aber die Gelegenheit hatten, demokratisch zu werden. Da habe ich viel gelernt: Wir sind in britische Clubs gegangen und haben so von der Besatzungsmacht vermittelt bekommen, was Freiheit ist, ohne uns betätigen zu müssen, ohne die Nachfolge Bismarcks anzutreten.
    Stuckrad-Barre: Speziell das Vierzehnjahrealtsein ist mächtiger als das Getöse drum herum, die Weltpolitik. Im Nachhinein ist dieses Alter vielleicht immer das Schönste, egal zu welcher Zeit man es erlebt hat.
    Kluge: Wahrscheinlich, denn es fängt ja das eigene Leben an, die Seiten des Lebens sind noch offen, lauter unbeschriebene Seiten.
    Stuckrad-Barre: Die ersten ernsthaften Schritte hinaus aus dem Elternhaus …
    Kluge: Also, vorn ist die Arztpraxis meines Stiefvaters, hinten macht meine Mutter Schwarzmarktgeschäfte. Sie verdient den Unterhalt. Das ist sehr interessant: Naturalwirtschaft ist möglich, Vertrauen gegen Vertrauen – Geld ist ja nix. Ist eine interessante Zeit, würde ich nicht eintauschen wollen. Das ist mein 1989. 1946 ist heute, oder es war nie da. In uns gehen diese Zeiten durcheinander und sind alle gegenwärtig. 1946 war ein Anfang, der 9. 11. 1989 war ein Anfang. Wir haben im Grunde die Neuerrichtung Deutschlands zwischen 1946 und 1949 ein bisschen hinbekommen und ein bisschen auch nicht hinbekommen. Und dasselbe 1989: Diese November-Revolution, die eine neue Welt schaffen wollte und dann das Weihnachtsfest nicht überstand, ging in Gemütlichkeit unter. Im Januar schon war nichts mehr davon zu spüren. Ich würde es eigentlich positiv wenden wollen, aber ich bemerke da eine Trauer in mir. Natürlich will ich nicht, dass die DDR erhalten worden wäre, aber dass man die Autonomie der Menschen geachtet hätte, statt ihre Vordergrundwünsche nach D-Mark und Fernsehen zu berücksichtigen. Es ist sehr viel Konsum exportiert worden in die DDR und sehr viel Produktion dort liquidiert worden. Da überlege ich mir sofort: Das, was nicht gemacht wurde, kritisiert das Gemachte.
    Stuckrad-Barre: Konkret, der 9. November 1989. Bischof Huber hatte offenbar Glück, er war in Berlin, stand nachts, wie er uns schreibt, an der Mauer »im Gespräch mit jungen Leuten aus Sachsen«.
    Kluge: Und er hat sozusagen kraft seines Amtes die Fähigkeit, etwas, was er gesehen hat, was allgemein bewegt, einer Gemeinde in Worten wiederzugeben. Also ein Paulus des 9. November. Lassen Sie uns mal das Wort Zeuge mehr belasten, was ja als christlicher Ausdruck sehr wichtig ist, Zeugnis abgeben.
    Stuckrad-Barre: In der Regel hinkt man ja der Weltgeschichte hinterher mit seinem eigenen mickrigen Leben. Durch einen Zufall ist man vielleicht mal wirklicher Augenzeuge eines weltbewegenden Ereignisses.
    Kluge: Eigentlich sind wir aufgerufen, das ganze Leben lang Zeuge zu sein, damit etwas nicht wieder oder damit etwas wieder geschehe.
    Stuckrad-Barre: Kommen wir mal auf diesen Begriff Zeitzeuge. Bischof Huber hat für seine Mauerfall-Anthologie eine Reihe Autoren angeschrieben, durchweg Menschen, die vor 1989 geboren wurden. Er hätte aber durchaus auch einen heute 17-jährigen Autor um seine Erinnerung an den Mauerfall bitten können.
    Kluge: Natürlich, ja.
    Stuckrad-Barre: Einen, der sich an den Nachhall erinnert oder an die Erzählungen. Wäre mindestens genauso interessant.
    Kluge: Man kann über Erzählungen etwas sehr gegenwärtig wahrnehmen und somit Zeuge sein. 70 nach Christus wird der Tempel in Jerusalem verbrannt von Titus. Man kann nun sagen, das wäre Gegenwart. Wenn ich
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