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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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die Wurzelkanäle, drinrumstochern, veröden, was weiß ich – nicht viel, denn ich bin währenddessen ja in Barcelona. In der anderen Stunde wird Prophylaxe betrieben, die Zähne sehen sehr schön aus danach, man bekommt ein Tütchen mit Zahnzwischenraumbürstchen überreicht und verspricht, diese auch wirklich zu benutzen und biszur nächsten Prophylaxe nicht wieder so viel Zeit verstreichen zu lassen. Nicht immer erst kommen, wenn es wehtut! Ich weiß, wie »Vicky Cristina Barcelona« ausgeht, denn ich habe ihn schon im Kino gesehen; trotzdem werde ich heute im Zahnarztstuhl die zweite Hälfte schauen. Welche von den drei Frauen ist die hübscheste? Während ich das noch begrübeln werde, heißt es schon, bitte spülen, und wegen der Betäubung werde ich das Wasser wieder zur Hälfte am Mund vorbeigießen. Auf dem Weg zum Zahnarzt werde ich bei der Post vorbeifahren, einen Scheck einlösen, der liegt hier schon seit Juni. Ob der wohl noch »gilt«? Hoffentlich bin ich rechtzeitig wieder zuhause, um »Ein Fall für zwei« zu sehen, da ist Matula dann wieder Matula, vorgestern Abend war er ja im ZDF kurz Heiner Geißler, und man dachte immer, was hat denn der Matula da mit Helmut Kohl zu besprechen – heute wird man sich fragen, na nu, wieso steht denn Heiner Geißler lederbejackt im Büro von Rechtsanwalt Dr. Lessing?
    In der Zwischenzeit: Schaue ich aus dem Fenster, sehe ich rechts eine mit Weinlaub berankte Wand, das Weinlaub ist schon gelbrot; links die Bäume, deren Blätter noch grün sind.
    Weil ich beim Friseur war und mir die Haare wieder drei Millimeter kurz habe scheren lassen, muss ich eine Mütze tragen. Es ist schon Herbst – trotzdem noch Sommerzeit, nur mein Telefon-Display zeigt heute schon (oder noch) die Winterzeit an, da ich technisch nicht in der Lage bin, die Uhrzeit dieses im letzten Winter gekauften Telefons zu verstellen. In der Nacht zum Sonntag, bei der Zeitumstellung, gehöre ich dann zu den großen Gewinnern, muss nämlich nichts umstellen. Ohne Mütze ist sowieso schon Winter. Mein Friseur ist Vater geworden, hat sich aber leider während der Schwangerschaft mit der sogenannten Kindsmutter verkracht. Als ich vom Friseur kam, lief mir fast Herbert Grönemeyer vors Fahrrad, der mit seiner Tochter Winterkleidung gekauft hatte, unter anderem auch eine Mütze, aber noch Spätsommersachen trug, da er gerade erst aus einem südlich verbrachten Urlaub zurückgekommen war.
    Morgen kommt die müde neue Platte von Marius Müller-Westernhagen heraus, »Williamsburg« heißt sie, aber die einzige Williamsburg, die uns an diesem Tag interessiert, ist Robbies Bühne neben der Max-Schmeling-Halle, wir werden dort sein und so tun, als gefielen uns die neuen Lieder, ein feste Burg ist unser Robbie – toll, dass er überlebt hat und weitermacht.
    Und wenn dieser Text in der Zeitung steht, wird auch das schon wieder zwei Tage her sein. »Gestern, heute, morgen / Hoffnungen und Sorgen«, heißt es in einem schönen alten Lied.
    Eigentlich muss ich Texte vom letzten Jahr überarbeiten für ein Buch, das im nächsten Jahr erscheint. Die liegen hier, ich sitze davor, es kann losgehen, doch nun ruft der Steuerberater an und will was über das laufende Jahr wissen, um dem Amt etwas über das nächste Jahr sagen zu können.
    Derweil gehen die Koalitionsverhandlungen voran. Das ist kein Schattenhaushalt, das ist ein Nebenhaushalt, rief gestern einer der Verhandler empört in die Fernsehkameras. Die neue Regierung ist noch nicht im Amt, aber es dauert nicht mehr lang. Der Impfstoff gegen die auch Neue Grippe genannte Schweinegrippe ist schon ausgeliefert, doch mein Arzt hat ihn noch nicht. Er hat mir genau erklärt, warum die einen diesen, die anderen jenen Impfstoff bekommen – fast hätte ich es verstanden. Wirkverstärker! Bei »Hart aber fair« ging es auch hoch her deswegen, und man kann heute alles im »Faktencheck« nachlesen. Mein Arzt aber ist auf einer Kreuzfahrt, und wenn er wieder da ist, soll ich zur Impfung kommen. Die Nebenwirkungen bestehen darin, dass man sich kurz krank fühlt und genau deshalb gesund bleibt.
    Die Wirtschaftskrise ist da, vielleicht aber bald schon wieder weg; ein paar meiner Freunde sind neuerdings arbeitslos, jedoch nicht ohne Beschäftigung, das Amt setzt ihnen ordentlich zu, auch ohne Migrationshintergrund versteht man die Formulare nicht, sie müssen allerhand beweisen – und wenn sie in eine andere Stadt fahren, sich irgendwo »vorstellen«, müssen sie dafür beim Amt
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