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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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angegriffen, als dass ich selbst hätte rauchen können, doch ich trug eine Packung grüne Gauloises in meiner Rocktasche mit mir herum. Ich ging im Zimmer auf und ab und wartete darauf, dass mein Maler kommen und mich aus meinem selbstgewählten Gefängnis befreien würde, so wie sie auf Julien gewartet hatte. Nie war das Warten so erträglich und Nescafé so ein Lebenselixier. Ich schuf mir meinen eigenen Jargon, gegründet auf Astragalus und erweitert mit Cavale , ihrem nächsten Roman, übersetzt als »Die Ausreißerin«, 1 mit einer der großartigsten Anfangszeilen der französischen Literatur: »Ich bin wirklich gut ausgestattet für meine Ankunft im Knast heute Abend: Opossum und schmale Hose.«
    Von der einen Hoffnung verlassen, fand ich in Sam Shepherd eine andere. Als wir beide auseinandergehen mussten, schrieben wir unseren Schwanengesang in Form des Stücks Cowboy Mouth, und als Hommage an Albertine nannte ich meine Figur Cavale, ein Name, der »Flucht« bedeutet, wie sie am Ende des Stücks erklärt.
    Als ich 1976 die Welt bereiste, packte ich Astragalus in einen kleinen Metallkoffer, der mit schweißfleckigen T-Shirts, Glücksbringern und jener schwarzen Jacke gefüllt war, die ich mit Nonchalance auf dem Cover von Horses trug. Es war eine Black-Cat-Taschenbuchausgabe mit einem Foto von Marlène Jobert auf dem Umschlag. Sie kostete 95 Cent, etwa so viel, wie ich 1968 für das gebundene Buch bezahlt hatte. Ich nahm sie mit nach Detroit, wo ich meinen eigenen wahren Julien traf, einen komplizierten, verschlossenen, gutaussehenden Mann, der mich erst zu seiner Braut und dann zu seiner Witwe machte. Nach seinem Tod nahm ich Astragalus 1996 mit zurück nach New York, eingebettet in einen Schatz bittersüßer Erinnerungen.
    Vor einer meiner letzten Frankreich-Touren förderte ich unabsichtlich ebenjenes Exemplar zutage, brachte es aber nicht über mich, es zu öffnen. Stattdessen wickelte ich es in ein altes Taschentuch und trug es in einem anderen Metallkoffer mit mir herum. Es war, als hätte ich Albertine selbst, eine zerrupfte Blüte, unter meiner aktuellen Version schweißbefleckter T-Shirts. Dann, in einer schlaflosen Nacht in einem Toulouser Hotel, packte ich es plötzlich aus und begann von neuem zu lesen, erlebte den Sprung und den Blitzschlag, als ihr Knöchel brach, und wie die Scheinwerfer leuchteten, als ihr Engel ihr erschrockenes herzförmiges Gesicht musterte. Szenen aus meinem Leben vermischten sich lautlos mit ihren Worten. Und dort, zwischen den vergilbten Seiten, lag ein altes Foto meiner Liebe, und in der abgegriffenen Umschlagklappe eine Locke seines langen braunen Haars – ein kostbares Relikt von ihm inmitten eines Relikts von ihr.
    Keine vorbeiziehenden Engel, sondern die Engel meines Lebens.
    Eines Tages werde ich ihr Grab besuchen mit einer Thermoskanne schwarzem Kaffee, werde eine Weile mit ihr dasitzen und den von Julien zu ihrem Gedenken aufgestellten Grabstein in Form eines Astragalknochens mit Maiglöckchenparfum benetzen. Wie ich meine Albertine vergöttert habe! Ihre leuchtenden Augen haben mich durch die Dunkelheit meiner Jugend geführt. Sie hat mich durch die Nächte hundertmaligen Schlafs begleitet. Und jetzt wird sie Euch begleiten.
     
    Patti Smith
     
    Aus dem Amerikanischen von Angela Sanmann
     
    1 Die deutsche Übersetzung von Werner Bökenkamp ist unter dem Titel Kassiber erschienen (A.d.Ü.).

 
    Über die Autorin
     
    Albertine Sarrazin
    Albertine Sarrazin wurde 1937 geboren. Sie wächst zunächst als Adoptivkind in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Doch die Eltern distanzieren sich von ihr, als sie ins Teenager Alter kommt. Die folgenden Jahre verbringt sie in Besserungsanstalten. Am Tag der Abschlussprüfung schlägt sie sich nach Paris durch. Ein Raubüberfall bringt sie ins Gefängnis. Mit 19 gelingt ihr die Flucht und sie lernt ihren Mann Julien kennen.1964 schreibt sie L'Astragale und wird, von Simone de Beauvoir entdeckt, schlagartig berühmt. Sie wird nur 29 Jahre alt
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