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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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ging. »Bald«, flüsterten wir, »bald gibt es zwei Filterkaffee …«
    Das Mädchen, das Rolande ähnelt, passt zu den Tränen von gestern, von vorgestern; keine Spur der alten Zärtlichkeit, kein Anflug von Trotz wird mich jetzt noch ins Wanken bringen. Rolande war das Nachtlicht, der Tag ist da, ich lösche es. Die Sonne hinter dem Fenster löscht auch die Neonlampen und die Gespenster, die Scheibe ist schon warm, unten beginnt die Straße zu quirlen.
    Und Julien erwartet mich in einer Stunde! Schnell, duschen, anziehen, Tasche zumachen, nichts vergessen.
    Zwanzig vor acht. Ich kippe den letzten Schluck Kaffee runter, direkt aus der Kanne; ehe ich die Bude verlasse, beseitige ich die Unordnung, damit sich die Zimmermädchen freuen, wie früher. Aber diesmal bin ich ganz sicher, dass ich nie mehr wiederkomme; heute Abend erwartet mich eine andere Herberge, Julien nimmt mich mit zu seinen Geheimnissen, endlich.
    Ich werde seine Länder, seine Orte, seine Freunde kennenlernen. Ich werde sogar die Andere kennenlernen, warum nicht? Ich werde sie zu meiner kleinen Schwester machen, oder ich stelle sie Jean vor. Und ich werde bei Julien sein, immer, wie der Schatten und das Gewand, seine Spuren auf mir werden alle früheren Schweinereien auslöschen, wie dieser Flug von einer Sekunde meine Haxe und damit auch die letzten falschen Bindungen zerbrochen hat – Adieu, meine Süßen! …
    Ich mache das Fenster auf, lehne mich hinaus.
    Eine Minute vor acht. Das Autodach gleitet in die Straße, hält an, zehn Meter unter mir … Julien! Eine Minute, um zu dir hinunterzurasen …
    Ich greife nach meiner Tasche, ich mache die Tür auf, stecke den Schlüssel von innen nach außen. Auf dem Gang steht ein Mann, nicht sehr groß, mit gutmütiger, zufriedener Miene.
    »Guten Tag, Anne«, sagt er. »Ich suche dich schon lange, weißt du? Ab mit dir, du gehst vor. Und versuch ja nicht zu rennen, klar?«
    Ich lächle. Julien wird uns vorbeigehen sehen, er wird verstehen, dass ich etwas zu spät komme und dass es nicht meine Schuld ist.
    Mach dir bloß keinen Kopf, auf der leuchtenden Plattform finden wir uns wieder. Einer von uns ist noch auf dem unteren Grat, wir müssen abwechselnd klettern und ziehen, das Ausruhen rückt in weite Ferne … Egal, ich laufe. Vor dem Bullen gehe ich die Treppe hinunter und humpele kaum.
     
    April-August 1964

Meine Albertine
    Ich frage mich wirklich, ob ich ohne sie die geworden wäre, die ich bin. Vielleicht ist es falsch, von sich selbst zu sprechen, wenn man über jemand anderen schreibt. Aber wäre ich mit der gleichen Lässigkeit aufgetreten, wäre ich Widrigkeiten mit solch weiblicher Entschlossenheit begegnet, ohne Albertine als meine Leitfigur? Hätten meine frühen Gedichte ihre Schärfe gehabt ohne Astragalus als meinen Leitfaden?
    Entdeckt habe ich sie ganz unverhofft, als ich 1968 durch Greenwich Village schlenderte. Es war Allerheiligen, ein Detail, das ich später in meinem Tagebuch notierte. Ich hatte Hunger und brauchte dringend einen Kaffee, aber vorher schaute ich im Buchladen in der Eighth Street vorbei, um die Tische mit den verramschten Büchern durchzusehen. Da lagen stapelweise Evergreen Reviews und obskure Übersetzungen von Verlagen wie Olympia und Grove Press – Schriften, um die die allermeisten einen Bogen machten. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich unbedingt haben musste: ein Buch, das mehr war als ein Buch, das Zeichen enthielt, die mich auf einen unvorhergesehenen Pfad lenken mochten. Ich wurde angezogen von einem auffälligen, entrückten Gesicht in Violett und Schwarz auf einem Schutzumschlag, der seine Autorin als »weiblichen Genet« anpries. Es kostete 99 Cent, so viel wie ein Käsetoast plus Kaffee im Waverly Diner, drüben auf der Sixth Avenue. Ich hatte einen Dollar und einen Subway-Token, doch nachdem ich die ersten paar Zeilen gelesen hatte, war ich hingerissen – ein Hunger besiegte den anderen, und ich kaufte das Buch.
    Das Buch war Astragalus und das Gesicht gehörte Albertine Sarrazin. Als ich im Zug zurück nach Brooklyn den mageren Klappentext verschlang, erfuhr ich bloß, dass sie in Algier geboren wurde und verwaist war, dass sie eingesessen hatte, zwei Bücher im Gefängnis und eines in Freiheit geschrieben hatte und erst kürzlich,1967 , gestorben war, wenige Wochen vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Eine Schwester zu finden und im selben Augenblick zu verlieren, traf mich damals tief. Ich war knapp zweiundzwanzig, auf mich allein gestellt,
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