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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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wir auf dem Jahrmarkt Scheiben geschossen und einen Haufen Schwachsinn gewonnen: Eine Flitterpuppe schaukelt an der Windschutzscheibe, andere liegen vor der Heckscheibe zwischen Straßenkarten, Anziehsachen, Vorräten …
    Am Johannistag, vorgestern, haben wir die Nacht im Bett der Mutter verbracht, die zum Schlafen zu den Kindern hochgezogen war; und seitdem … wenn ich mir vorstelle, dass ich eifersüchtig auf den Schlaf war, wie willkommen wäre er mir jetzt, mein Kopf ist so voller Schlaf! … Seitdem fahren wir: gestern früh im Zug bis Paris, den ganzen Vormittag Probefahrten, Formalitäten, Formulare, Mittagessen bei Freunden von Julien.
    »Na, Alter, wo warst du abgeblieben?«
    Bei den Freunden kommt das Hauptgericht nach dem Kaffee in Form von Verdauungsschnäpsen, »komm schon, noch einen Kurzen«, und endlosem Reden. Zu ihrem Lachen und dem Geschwätz über die guten alten Zeiten habe ich keinen anderen Zugang als zerstreutes Zuhören, Mitlachen, wenn ich sehe, wie sich alle auf die Schenkel klopfen, abwechselnd Glas und Zigarette, bis zum unterdrückten Gähnen und Kopfschmerzen.
    Am Abend statte ich Jean einen Blitzbesuch ab, um einen Teil meiner Sachen zu holen. Julien hatte mich blank und bloß genommen, ich war ohne jedes Gepäck zu ihm gegangen, aber diese demütige und allumfassende Hingabe änderte nichts an der Notwendigkeit, die Unterhose zu wechseln.
    Jean kam mir vor wie etwas weit Zurückliegendes, Fernes; seit er mir am Vortag auf dem Bahnsteig Adieu gesagt hatte, war eine andere Welt geboren. In diese Welt, wo Jean immer noch kreiste, kehrte ich mit einer Aura schläfrigen Glücks zurück. Ich spürte, wie ich im Grau des alten Zimmers strahlte; das Kindergeschrei auf dem Hof und die Musik der schwarzen Nachbarn gingen durch meine Ohren, ohne darin Gestalt anzunehmen; ich fand mich nicht wieder.
    »Du hast glückliche Augen«, sagte Jean. »Du hast dich vielleicht verändert seit gestern! Aber mich haut’s vom Sockel, dich so schnell hier wiederzusehen. Ich dachte, du wärest für Monate weg …«
    »Ich will mich nur umziehen, das ist alles. Hilf mir, schnell, ich hab’s eilig!«
    Fröhlich zog ich mich nackt aus, ließ Jean hinten die Knöpfe zumachen, ließ ihn an meiner neuen Haut schnüffeln. Nicht, dass ich ihm irgendein Almosen hinwerfen wollte, aber wenn es »sein Glück war, mich glücklich zu sehen«, ließ ich ihn mit grausamer Gewissenlosigkeit feststellen, dass ich es war, glücklich, und dass das nicht sein Verdienst war und niemals sein würde. Jean, mein Kleiderkasten und mein Kummerkasten, mein Dienstmann und mein Talisman, wenn er Wert darauf legte (»Hals- und Beinbruch, ja?«). So hatte ich ihn Julien beschrieben, damit er ihn akzeptiert. Aber Julien hat niemals in meinem Leben geschnüffelt; egal, wo ich gestern war, was ich getan habe, gestern ist tot und wir leben. Morgen, ein Hauch von Zukunft, wenigstens das …
    Wie anstrengend jeder Gedanke ist! Die Bäume stürzen auf mich nieder, das Auto rast bodenlose Abhänge hinab, ich schlafe ein …
    »Da ist der Ozean«, verkündet Julien.
    Sofort schwindet mein Schlaf, ich setze mich auf, um dieses unbekannte Wasser, das sich zum Horizont zurückgezogen hat, die trostlose Wahrheit des einsamen Strandes, die Lagunen, die rostigen Felsen so gut es geht zu bewundern. Ich hatte vor, gleich nach der Ankunft zu baden, weil ich mich an das vom Morgen an so gastfreundliche Mittelmeer erinnerte, aber unter diesem flockigen, grauen Himmel habe ich eher Lust, in einen Mantel zu schlüpfen als in einen Badeanzug.
    Wir ziehen die Schuhe aus, fahren mit dem Auto so weit wie möglich vor, bis wir fast steckenbleiben. In den Fels geschnittene Stufen führen zum Strand. Ich steige sie mit Schmerzen hinunter, meine Haxe kribbelt bei jedem Steinchen, ich klammere mich an Julien. Unsere Füße wählen den Platz für jeden Schritt, bis zum Sand, wo sie erlöst sind und wohltuend in einen kalten, klebrigen Brei eintauchen können. Sand, Öl, Plankton, Müll … In unseren Stadtklamotten, berauscht von Jod und Wind laufen wir an den verebbenden Wellen entlang. Ich plansche im Schlamm, enttäuscht von diesem feierlichen und toten Strand, von dieser reizlosen Umgebung, die mich packt und verkümmern lässt.
    Julien lacht: »Und, willst du nicht mehr baden? Komm, wir gehen wieder hoch, ich habe da oben ein Lokal gesehen. Nach so einer Ladung Frischluft brauchen wir Kaffee.«
    Ich falle ins Auto, schließe die Augen, jetzt rühre ich mich
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