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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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Tränen, aber ich werde ihn scharf stellen, meinen Blick, und ich werde durch die Nacht sehen können. Vielleicht ist das andere Mädchen genauso geduldig wie ich, vielleicht setzt sie auf die Zeit, um den Griff ihrer Krallen zu verstärken. Natürlich hat sie mir gegenüber den Vorzug des Dienstalters und der Legitimität, ihr würde man die Papiere für die Hochzeit nicht verweigern … Aber nicht das will ich zerstören. Ich will die Gegenwart und die Zukunft von jedem Körnchen von ihr reinigen, ich will, dass Julien zurückholt, was er ihr mit freundlicher Unbekümmertheit gegeben hat, wie immer, wenn er gibt, ich will, dass er ihr seinen Charme verweigert, dass er sie nicht mehr sieht.
    »Einen Körper tötet man leichter als eine Erinnerung«, sage ich.
    »Aber warum willst du sie töten? Ich liebe sie nicht, ich kann sie nicht lieben.«
    »Zumindest würde ich verhindern, dass andere geboren werden!«
    »Was?«
    »Andere Erinnerungen … Ich sage dir, wenn du ihr von mir erzählst oder wenn sie spürt, dass du sie sitzenlassen willst, wird sie natürlich feststellen, dass ein Balg unterwegs ist oder sonst eine Erpressung. Glaub ihr nicht, Julien, misstraue den Weibern, ich kenne sie …«
    Ich denke an Cine, an die hasserfüllte Grausamkeit, die nach unserer »Scheidung« das Feuer und die zärtlichen Tränen abgelöst hatte, ich denke an Rolande, an Jean, und lange vor ihnen an die Liebhaber meiner Jugend, an alle, die mich anflehten und die ich gleichgültig zurückgestoßen hatte, um noch weiter wegzulaufen, als die Zeit gekommen war … und ich frage mich, ob es ihnen auch so wehgetan hat, wie es mir heute wehtut, während ich mit unendlicher Verblüffung diese seltsam pochende Wunde entdecke; erstaunt und aufmerksam entdecke ich den Liebesschmerz. Den Schmerz des Herzens oder den Schmerz der Haxe kann ich neben mich stellen und mich entfernen; aber diesmal gibt es weder eine Droge noch eine Ausflucht, der Schmerz windet sich und lässt den ganzen Körper stöhnen, er ist ich. Details überfluten das Bild, bis zum Schrei, bis zur Leere. Dieser ungeduldige und überzeugte Glauben in mir, das abstrakte, naive Bild der Liebe, der Stolz, all das stirbt im Sand dieses Strandes. Ich entdecke die schmerzhafte Beschaffenheit der Liebe und bin verrückt vor Traurigkeit …
    Danke, Julien, dass du mir so wehtun konntest. Du setzt den Chimären ein Ende, nach dem Körper gibst du mir das Herz einer Frau, einer dieser Frauen, deren flehende Macht, deren Umklammerung und gezwungene Unterwürfigkeit ich verachtete. Jetzt bin ich es, die in deine Hemden schnieft …
    »Gehen wir«, sage ich. »Wir werden zum Essen erwartet.«
    Wie im Traum verrinnt ein weiterer Tag, mal unter dem glühenden Dach der Karre, mal im frischen Schatten von Häusern und Lauben. Ich bin zu müde, um die Stunden zu zählen, trotzdem kommt es mir vor, als könnte ich so noch viele Tage und Nächte verbringen. Ich bin Reflex, Mechanik, die Zeit hat aufgehört.
    Ich gebe Julien die Briefe, die ich in den drei Monaten an ihn geschrieben habe. Während er sie liest, warte ich, wie man auf ein Urteil wartet, und lasse den Sand zwischen meinen Fingern rinnen.
    Wir haben uns von den Freunden verabschiedet, endlich, nachdem wir x-mal das letzte der letzten Gläser geleert hatten. Und jetzt liegen wir in den Dünen, allein, ohne klare Gedanken, am Rande der Gesten, mit diesem hartnäckigen Band der Freude, das seit dem Abend des Johannistags nicht zerrissen, nicht schlaff geworden ist; es hat sich eher gefestigt durch die Tränen am Strand heute Morgen, wie sich eine geknüpfte Schnur durch den Regen versteift.
    »Deine Briefe hauen mich um«, sagt Julien, als er sie mir zurückgibt. »Heb sie für mich auf. Ich hatte noch viel von dir zu erfahren … Anne, verzeih mir …«
    »Was verzeihen?«
    »Wegen der Kleinen. Mir fällt nichts anderes ein, als mich sofort darum zu kümmern, damit du nicht noch mehr weinst. Los, wir fahren nach Paris zurück, ich bin vor Mitternacht bei ihr. Du wartest im Auto auf mich, und dann in die Heia, einen Tag, zwei Tage, acht Tage, so lange wir wollen. Mir ist schon seit Ewigkeiten danach, sie abzuservieren, aber ich brauchte erst diesen Morgen und deine Briefe, um mich durchzuringen … Immer dieser blöde Wunsch zu brechen, ohne etwas kaputtzumachen; so bin ich eben. Aber wenn es nicht anders geht als Krachbumm, dann eben so. Sie wird für den Schmerz blechen, den ich dir bereitet habe.«
    »Aber bis Paris sind es
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