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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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nächsten Morgen.
    Ich krieche. Meine Ellbogen werden erdig, ich blute Schlamm, die Dornen durchbohren mich, es tut weh, aber ich muss weiter, vorwärts, wenigstens bis zu dem Licht da, ein Haus, das muss die Straße sein … Zwischen dem Licht und mir ist ein Zaun, an dem ich strande. Ich fühle mich wohl, als ich da auf dem Rücken liege, Augen geschlossen, Arme entspannt … Sammeln sie mich eben im Schlaf auf, Pech. Ich werde dieses Ausruhen mit neuer Unterwerfung, mit neuen Schmerzen bezahlen, ich bin zu Boden gegangen, da bleibe ich. Vielleicht wird die Mauer meinem Sturz folgen und mich unter sich begraben.
    Ich richte mich auf den Knien auf, umrunde den Zaun. Ein Knie, ein Unterarm, ein Knie, ein Unterarm … es geht, ich gewöhne mich dran. Ich stelle mir vor, dass ich nochmal von vorn anfange, dass ich mir diesmal Zeit lasse. Anstatt wie eine Verrückte loszurasen, mich an die Steine gekrallt aufs Geratewohl die Mauer runterzuhangeln und loszulassen, sobald mein Fuß ins Leere tritt, suche ich mir für die Landung einen weichen Fleck, da, wo das Gras dick und federnd wächst …
    Ich lasse die Villa hinter mir, deren Lampe immer noch brennt, bewege mich dicht an der Mauer entlang durch das Gras am Weg, Unterarm, Knie, Unterarm … Da ist die Straße, glänzend, zweigeteilt von dem gelben Band. Ein Metallzelt steht auf dem Randstreifen, Benzinwerbung. Ich klammere mich daran, das Gestell klappert, von hier aus fahre ich per Anhalter … Nein, Paris ist in der Gegenrichtung, also rüber auf die andere Seite. Der erste Schritt ist glühendes Eisen, der zweite Gelatine, ich sinke quer über dem gelben Band zusammen, der nächste Raser ist meiner … Da ist er, ein Lastwagen. Er fährt in meine Richtung und wird an seinen Rädern Fetzen von mir nach Paris bringen. Ich sehe in seine großen gelben Augen. Er kommt auf mich zu.
    Ein paar Meter vorher weicht der Laster aus, rollt auf den Randstreifen und bleibt stehen. Ich höre die Bremsen schnaufen, dann knallt die Tür zu, und Schritte kommen näher. Ich bleibe liegen, zermalmt, die Augen geschlossen.
    »Mademoiselle!«
    Finger berühren mich, suchen zögernd, besorgt.
    Ich sage: »Bitte bringen Sie mich von der Straße runter … Halten Sie mich fest, ich glaube, ich habe mir das Bein gebrochen.«
    Der Fahrer stützt mich bis zum Trittbrett seines Lasters. Ich setze mich hin, verfrachte den Knöchel in den Schatten, ich will nicht hinsehen. Eine nahe Straßenlaterne leuchtet auf meinen rechten Fuß. Er ist erdverschmiert, Schlamm trocknet an den schwarzen Zehen und in breiten Streifen bis hinauf zum zerkratzten Knie, das vor sich hin blutet. Ich ziehe den Mantel um mich zusammen, die Fäuste in den Taschen, ich habe nichts anderes am Leib, und allmählich wird mir kalt, kalt bis ins Herz.
    »Geben Sie mir eine Zigarette?«
    Der Typ holt seine Gauloises raus und gibt mir Feuer. Im Streichholzlicht sehe ich sein Gesicht, das Gesicht eines Fernfahrers in der Nacht: glänzende Haut, sprießender Bart und dazu dieser zerknitterte, starre Ausdruck.
    »Was haben Sie denn gemacht?«
    »Ich …« Ach, was soll’s, so, wie es jetzt um mich steht, kommt es nicht mehr drauf an. »Kennen Sie die Gegend?«
    »Ich fahre die Strecke dreimal pro Woche.«
    Ich zeige auf den Trampelpfad, das Licht der Villa ist der einzige Orientierungspunkt im undurchdringlichen Dunkel der Bäume und Mauern.
    »Dann wissen Sie vielleicht, was da ist …«
    »Äh … ja. Und von da …?«
    »Ja, gerade eben. Na gut, vor einer halben Stunde oder einer ganzen … Sicher suchen sie mich noch nicht. O bitte, nehmen Sie mich mit nach Paris! Sie kriegen bestimmt keinen Ärger, Ehrenwort. In Paris setzen Sie mich ab, dann komme ich schon klar.«
    Der Mann überlegt lange, dann sagt er: »Ich würde Ihnen ja gern aus der Klemme helfen, aber … verstehen Sie, Ihr Bein.«
    »Trotzdem. Bis Paris, Monsieur, mehr will ich ja nicht. Ich werde Sie nie erwähnen, egal, was passiert. Glauben Sie mir!«
    »Ich glaube Ihnen. Aber Sie werden es nicht verhindern. Die haben Mittel, die wir nicht kennen. Ich habe Frau und Kinder, das geht nicht.«
    Ich umklammere meinen Knöchel mit zehn Fingern und stemme mich gegen die Fahrertür, um aufzustehen: »Gut, dann lassen Sie mich hier. Ich bitte Sie nur darum, dass Sie ›die‹ nicht im nächsten Nest informieren. Vergessen Sie diese Begegnung, seien Sie …«
    Ich wollte sagen: Seien Sie so gut, aber plötzlich erfasse ich die Lächerlichkeit der Worte, den Geschmack
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