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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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Grausamkeit bestanden hatte, hier in diesem lustigen Kinderzimmer mit den Spielsachen und Büchern, die auf dem Boden herumlagen, der blauen Tapete und dem großen Fenster, das einen grauen Frühlingsmorgen einrahmte?
    So vergingen mehrere Tage. Morgens, nachdem die Kinder in die Schule gegangen waren, kamen Ginette oder die Mutter mit dem Frühstück und warmem Wasser zum Waschen herauf. Ganz elementar entstand meine Existenz neu: Ich hatte jetzt meinen Kamm, meine Zahnbürste, Nachthemden und Unterwäsche, von Ginette geborgt. Eddie, der Große, der Ehemann von Ginette, hatte ein altes Radio vom Boden heruntergebracht und neben meinem Bett angeschlossen. Ich hörte den ganzen Tag, bis die Kinder ins Bett gingen, und nachts schob ich mein Bein in dem Viereck herum, wartete erschlagen von Schlaflosigkeit auf die Dämmerung.
    Meinen Oberkörper wusch ich ohne große Schwierigkeiten, aber für den Rest musste ich eine neue Art erlernen, mich zu bewegen, jede Regung zu kalkulieren und zu erfinden: die Schüssel auf dem Fußboden anpeilen, mich ihr nähern, ohne den linken Fuß aufzusetzen, mich hinkauern, das Bein mit einer Hand in der Luft haltend – man musste es tragen, denn es war vom Knie abwärts völlig unbeweglich – manövrieren, um wieder hoch ins Bett zu kommen, das Wasser in den Eimer gießen … Meistens ließ ich den Fuß unter der Decke, und wenn ich mich bewegte, nahm ich das Knie als Ausgangspunkt, rollte zur einen und zur anderen Seite, stützte mich auf die Schultern, kroch auf der Stelle.
    Trotzdem überprüfte ich jeden Morgen die Lage, indem ich zu gehen versuchte. Ich saß auf dem Bettrand, stellte den Fuß hin, stand auf. Ganz langsam verlagerte ich mein Gewicht, verteilte es gleichmäßig auf beide Beine. Aus einzelnen Striemen rollte sich der Schmerz zu einer großen, reglosen Kugel und ließ nach. Dann bewegte ich den rechten Fuß, ich rollte ihn ab, löste ihn vom Boden, aufmerksam, langsam … Aber jedes Mal überwältigte mich die Geschwindigkeit, mein Knie gab nach, knickte ein, ich wurde nach hinten aufs Bett oder nach vorn gegen das Fenster geschleudert. Entmutigt bis zum nächsten Tag nahm ich das Bein und legte es wieder in die Horizontale.
    Ich entfernte auch den Verband, um es mir anzusehen. In den ersten Tagen schienen Wade und Knöchel die Rollen getauscht zu haben, der Fuß war die Basis eines Kegels, die Schwellung hatte die Wade verschwinden lassen. Das Blut staute sich in blauen, violetten und grünen Flecken unter der Haut, und die Kratzer der Dornen bildeten darüber ein Geflecht aus schwarzem Schorf. Ab und zu entdeckte ich einen Splitter, den ich mit den Fingernägeln herauszog. Dann ließ die Schwellung nach, aus Holz wurde harter, kalter Marmor, das Blut bewegte sich nicht mehr.
    Die kleinen Liebesromane, die mir Ginette brachte, die belanglosen Liedchen im Radio und die Flaschen, die mir Eddie halbvoll ans Bett stellte, damit ich sie leerte, hinderten die Bestie tagsüber daran, die Zähne zu zeigen. Außerdem kamen sie mich besuchen, setzten sich vorsichtig auf den Rand des Vierecks, und ihre Anwesenheit, ihre Worte vertrieben die Stunden. Ginette saugte Staub, schüttelte singend die Betten auf, antwortete auf die Fragen, die ich aus Höflichkeit und mit großer Mühe stellte, weil ich ein hartnäckiges Unbehagen verspürte. Ich hatte das Gefühl, dass all meine Worte und sogar mein Schweigen verrieten, wofür ich mich zwar keineswegs schämte, was ich aber trotzdem nicht herausposaunen durfte. Ich hatte gelernt, die Mädchen zu lieben, sie einzuschätzen, ich war Müttern begegnet, die sich hinter ihren Gören verschanzten, um ihre außermütterliche Liebe und ihre Verbrechen zu kaschieren. Die Frauen, die ich auf der Mauer zurückließ, hatten mich von der Einfachheit, von einer auch nur oberflächlichen Kameradschaft entfernt. Die Kluft zwischen ihnen und Ginette verblüffte mich und verschloss mir die Kehle.
    Julien dagegen hatte ich alles erzählt: die Vergangenheit, die Zukunft, von der ich überzeugt war, laufen, laufen und dann Rolande wiederfinden. Er war zwei Nächte nach der Rettung wiedergekommen. Als ich unten seine Stimme hörte, war ich überrascht, ja enttäuscht, dass er nicht sofort zu mir hochkam.
    »Meine Mutter ist einverstanden«, hatte er erklärt, als er in der Nacht der schwarzen Bäume gekommen war, mich zu holen. Und: »Pass bloß auf, dass meine Mutter keine Schwierigkeiten kriegt.«
    Er besuchte seine Mutter, und ich wurde ungeduldig
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