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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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Bruder?«
    »Dein Bruder! … Ha, ich hätte dich abgeholt, du wärst gesund geworden, und später, in aller Freiheit … Das wäre schön gewesen. Aber …«
    Ostern rauschte mit vollem Schwung durch das halbgeöffnete Fenster, das einen leichten April hereinließ, wir redeten, ein Glas in den Händen: Ausnahmsweise war Julien einmal früher gekommen und hatte mir den Aperitif gebracht. Düfte von Fleisch und Kuchen kletterten die Treppe hoch, ich hatte Lust, zu essen und zu trinken, mein Viereck zu verlassen. Und im gleichen Moment fragte mich Julien, ob ich mit der Familie essen wolle, ein bisschen Abwechslung zu meinem Tablett.
    »Ja, aber … Ich habe keine Klamotten.«
    »Warte, ich seh nach, ob dir Ginette was borgen kann.«
    Also habe ich mich schick gemacht: ein alter Pullover und ein Rock, Vaseline, um mein ausgetrocknetes Gesicht aufzuweichen, den einzigen Hausschuh am einzigen Fuß. Julien trug mich zum Tisch, der in der Küche gedeckt war, setzte mich zwischen die Mutter und sich. Der Tisch war rund und klein. Ich rückte meinen Stuhl zurecht, um den verbundenen Fuß auf Juliens Knie zu legen. Während der ganzen Mahlzeit aß er mit einer Hand, mit der anderen hielt er meine Puppe und drückte sie ein bisschen, damit sie weniger wehtat. Im Sitzen war der Schmerz anders. Die Knochen bildeten einen Schraubstock, der sich selbst zermalmte, ein großer, lästiger, schief eingesetzter Eisenklumpen. Trotzdem lachte und aß ich mit den anderen; zu Ostern konnte kein Fuß, nicht mal dieser, ein Hindernis sein. Mein Fuß war unter dem Tisch bei den anderen gesunden Füßen, und durch ihre Berührung wurde er es auch.
    Beim Dessert zog der kleine Junge ernst und ohne zu husten an der Zigarre von Eddie, der die Mutter auf den Schoß genommen hatte und mit einem Arm an sich drückte, mit dem anderen zog er Ginette an sich, die ein bisschen blau war und zu viel redete und kicherte. Hühnerknochen und drei Löffel Erbsen blieben im Topf zurück, und der Kuchen wartete zwischen den Resten, den Gläsern, den hingeworfenen Servietten. Ich hatte noch Hunger; diese Mahlzeit war die erste seit Jahren. Essen war ein Halt und eine Haltung, ein Zeitvertreib und ein Vorwand geworden. Ich war vom Abendunterricht freigestellt worden, der das Schulniveau nicht überstieg. Während die Mädchen mit den Erzieherinnen »in der Schule« waren, kochte ich das Abendessen.
    Ich hatte meinen Haushaltskurs schnell verdaut: In einer Viertelstunde war der Fraß fertig, und mir blieben anderthalb Stunden Freiheit. Ich entwischte durch das Küchenfenster, um auf den Mauern Luft zu holen oder ein Mädchen zu treffen, das sich wegen Unwohlseins vom Unterricht hatte freistellen lassen. Wir veranstalteten Lindenblütentanztees.
    Ja, in der Küche sein, wenn die Erzieherin nicht da ist, durch die Etagen flitzen, wenn sie die Deckel anhebt: »Anne, das riecht wunderbar. Was werden Sie uns servieren?«
    Sonntags aß die Erzieherin mit ihren Schäfchen. Man hat ein bisschen getanzt, nach der Messe der Familie geschrieben und sich dann mit Annes leckerem Fraß den Bauch vollgeschlagen. Der Spaziergang danach ist gut für die Verdauung. Wir schlendern, dein Knochen läuft – läuft nicht mehr, Süße, mein Knochen –, das Herz schwer vom Mürbeteig, hin zum Abendessen, wo wir weiterschlemmen, bis wir müde werden. Uff, schlafen, wieder eine Woche rumgebracht.
    Heilige Gelage: die aus dem Vorratsschrank geklauten Margarinebrote, die kurz vor der Quartalsinventur geschlachteten Hühner, gekocht, geteilt und heimlich verdrückt; die Festtagspakete der Wohlfahrtsempfängerinnen, wohl oder übel an das liebe Kollektiv verteilt. Danke, Mama, die anderen sagen, dass deine Täubchen lecker waren. Nimm heute Abend eine Rolle Bindfaden mit hoch, Süße, ich schick dir durchs Fenster was rüber, du wirst dir die Finger lecken. Wirklich, Mademoiselle, mein Viertel Milch ist niemals voll, jemand klaut sie mir, ich arbeite, ich brauche meine Milch.
    Gelage, Gelaber, Sehnsucht, Flecken. Nicht mal der vor den Schlemmertagen wochenlang angesetzte »Aperitif« heizte so ein wie dieser freie Wein: Ich bin blau … Die Lust, mich auszustrecken, zu schweben, stieg mit Wellen von Wohlbehagen in mir auf. Ich drückte meine Ferse an Juliens Hose, komm, gehen wir hoch, vergiss, lass dieses Familiengerede, das sich hinzieht und mich außen vor lässt.
    Mit dem Ernst der Trunkenheit begleiteten sie mich feierlich zurück und bildeten einen Kreis um mein Bein, entblößten es,
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