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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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drückten abwechselnd ihre Finger hinein, versuchten es zu beugen und zu bewegen. Da ließ ich meine Tränen fließen. Es war wirklich wahr und klar wie der Tag, mein Bein bedrohte uns alle. Nicht mal Julien tröstete mich. Er ließ nur meine Tränen in Wut umschlagen. Bring mich weg, bring mich irgendwohin, oder bring mich zurück, wenn du willst, was zählt, ist mein Bein, für das es jeden Tag mehr zu spät ist.
    Julien versprach, morgen.
    »… und sieh zu, dass du den Typ im Auto nicht anmachst, das ist mein Kumpel.«
    Wo war mein Liebhaber Julien? Warum spottete er, warum war er grausam? Warum zerstörte er jede Zärtlichkeit? Glaubte er, dass ich ihn liebte, um etwas zu machen, um meine Schulden zu begleichen, obwohl ich auch da nur mein Wohlbefinden und meinen Stolz suchte?
    Eines Morgens hielt endlich ein Auto vor dem Haus. Ginette hatte mir geholfen, eine ihrer Hosen anzuziehen und den Inhalt des Nachtschranks in eine Strandtasche zu stopfen. Ich war etwas reicher, reich an Unterwäsche, Seife und Schlaftabletten. Diese hatte zusammen mit Bleiwasserumschlägen und Salzwasserbädern der Hausarzt verschrieben, den man gerufen hatte, als ich mich eines Abends mehr als sonst vor Schmerzen wand. »Eine böse Verstauchung«, hatte er diagnostiziert.
    Von mir aus eine Verstauchung, auch wenn diese hier nichts mit den Verstauchungen meiner Jugend zu tun hatte, die mich nie lange am Rennen hinderten und unter dem leichten Bluterguss und dem ordentlichen Schmerz baldige Heilung versprachen. Gewaltig oder nicht, es ist eine Verstauchung. Ich werde sie überraschen, ich werde ganz allein die Treppe runtergehen, ich … Au! Wieder liege ich am Boden, verpatzt. Schnell, Knie, Unterarm, den Fuß als Periskop, klettern wir wieder ins Viereck, damit man mich nicht am Boden findet.
    »Guten Morgen, bist du fertig? Gut. Ich bring dich weg.«
    Julien stürmte herein, küsste mich, ohne mich anzusehen, schob einen Arm unter meine Knie, hängte sich die Strandtasche über die Schulter. Ich, die Arme in einer inzwischen vertrauten Position um seinen Hals geschlungen, schaute auf mein Viereck mit seinen zerwühlten Decken, die Schüssel voller Seifenwasser, die Betten, in denen die Kinder noch schliefen; ein Sonnenstrahl bohrte sich durch die geschlossenen Fensterläden.
    »Ist es schön?«, fragte ich.
    »Sogar warm. Und es wird viel Verkehr sein, heute ist der erste Mai.«
    Vorstellung. Herzlichkeit, Kaffee, Küsschen. Ich nahm in der allgemeinen guten Laune eine Spur von Erleichterung wahr: Ich würde versorgt werden, aber vor allem ging ich woandershin. In diesen drei Wochen war vielleicht auch meinen Gastgebern die Zeit lang geworden.
    Natürlich bestand kein Risiko, dass mich die Polizei hier suchte, aber sie könnte natürlich einen kleinen Abstecher wegen Julien machen, der für dieses Departement Aufenthaltsverbot hatte, und mich bei der Gelegenheit gleich mitnehmen.
    »Du meinst wohl, sie können mich hindern, meine Mutter zu besuchen!«
    Deshalb kam er nachts, wenn die Polizei nicht an friedliche Türen klopft, und verschwand vor dem Morgengrauen. Ich war in der oberen Etage versteckt. Wenn sie kämen, Zufall oder Tratsch der lieben Nachbarn, kämen sie ohne Durchsuchungsbefehl, Ginette und die Mutter könnten unschuldig die Augen aufreißen und sie auffordern zu suchen, und selbst wenn, eine Cousine kann sich doch wohl das Bein gebrochen haben. Aber der Ernstfall pfeift auf alle Berechnungen, und der Auslöser, der die Maschine in Gang setzt, ist oft irgendein Übereifer.
    Der Freund war sehr dick, sehr fröhlich, um die fünfzig, wie aus dem Ei gepellt; er entsprach dem Bild, das ich mir vom arrivierten Gauner machte, der sich von Gefängnis und Geschäften zurückgezogen hat. Ohnehin war ich randvoll mit Bildern: Ich war zu jung, als ich eingesperrt wurde, ich hatte keine Zeit gehabt, irgendwas zu sehen, und ich hatte viel gelesen, geträumt und phantasiert. Für mich war die Wirklichkeit genauso verzerrt wie alles andere, und während man mich auf die Rückbank legte – ich konnte mich dort lang ausstrecken –, stellte ich mir vor, zu einem luxuriösen und zugleich grusligen Unterschlupf aufzubrechen.
    Die Straße war ganz unschuldig, frühlingshaft, voller Autos vollgestopft mit Familien, gesäumt von kleinen Ständen, die Glöckchen anboten, die Maiglöckchenstraße.
    Julien quatschte mit seinem Freund. Ich sah seine durch den Schnitt der blonden Haare exakt eingerahmten Ohren, seinen Hals und einen Streifen
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