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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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wurde alles wieder Stille, Wüste, Nacht.
    Ich rührte mich nicht. Später, wenn es weniger wehtäte, würde ich mich ein bisschen näher zur Straße bewegen. Ich lag zu tief im Gebüsch, der Mann würde mich nicht wiederfinden. Ich würde ein paar Meter, ein paar Bäume weit zurückkriechen. Ich hatte Zeit. Ich wusste, dass die nächste Stadt vierzig Kilometer entfernt war, vierzig plus vierzig … Es waren Leute im Auto, ich hatte Stimmen gehört, vielleicht wollte der Mann seine Mitfahrer absetzen, bevor er zurückkam. »Mach bloß nicht den Mund auf.« Ich lächelte, den Mund an den Baumwurzeln. Jetzt war ich ganz ausgestreckt, wurde nass vom Gras, erfror allmählich. An meinem anderen Ende machte mein Knöchel ein Riesentheater, schmolz bei jedem Schlag meines Herzens in glühenden Rinnsalen. Ich hatte ein neues Herz im Bein, das noch ziemlich unrhythmisch, unregelmäßig auf das andere antwortete. Da oben waren die schwarzen Äste vor dem eisigen Himmel erstarrt. Auf der Straße fuhren Autos vorbei und entfernten sich, keins wurde langsamer, keins bog zu mir ab. Der Mann musste wohl oder übel zurückkommen, denn ich hatte nicht mehr die Kraft, noch einmal mein Glück zu versuchen, und man durfte mich dort am Morgen nicht finden. Um mein Bein machte ich mir keine Sorgen, das würde auf jeden Fall versorgt werden. Der Schmerz hatte sich schon eingelebt, er spazierte durch meinen Körper, besuchte jeden Winkel und ließ ihn im Vorbeigehen steif werden. Er breitete sich aus und ebnete sich ein; nur kleine überraschende Funken hier und da ließen mich zusammenzucken und hinderten mich daran, richtig einzuschlafen. Ich knetete in meiner Manteltasche die Gauloise, die mir der Fernfahrer gegeben hatte; sie würde womöglich meine einzige Trophäe sein … Eigentlich war es gar nicht so schlecht: Ich hatte einen Glimmstängel, eine echte große Gauloise, und ich hatte die Freiheit, sie wegzuwerfen oder zu zerkrümeln. Mein Zigarettenpapier und meine Streichhölzer waren oben geblieben. Rolande, Rolande, ich habe eine schöne Kippe und kann sie nicht rauchen …
    Ein brennendes Streichholz. Eine Sternschnuppe, ein Nebelscheinwerfer. Nein, es ist der Schmiedeofen meines Knöchels, der den ganzen Pfad erleuchtet. Die Wellen wirbeln einen Moment, dann sammeln sie sich und erstarren in einem blendenden Lichtkreis, einer großen Taschenlampe, deren Strahl haarscharf an meinem Kopf vorbeigeht und am Baumstamm stehen bleibt, ohne mich berührt zu haben. Es kommt mir auch so vor, als hätte ein kurzes, ersterbendes Motorgeräusch die Nacht gebläht; ich habe wohl geträumt, nur die Kälte knirscht in meinen Ohren. Aber der Scheinwerfer ist immer noch da, ich kann die Baumrinde genau erkennen, und jetzt geht ein zweiter an, winzig und beweglich, der dicht am Boden herumirrt. Es ist so weit, ich bin entdeckt.
    Alles erlischt, und jemand kommt näher. Er ist es, sicher.
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren!«
    Ach so, habe ich mich gerührt? Möglich. Alles wird wieder möglich. Ich glaube, dass ich lache, dass ich den Hals des Mannes umschlinge, dass …
    »Ja, ja«, sagt er und macht sich los, um in der Innentasche seiner Jacke zu kramen. Er holt einen Flachmann und eine Schachtel Zigaretten raus. Jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Wir trinken abwechselnd, direkt aus der Flasche. Bei jedem Zug entreißt die winzige Glut der Zigaretten unsere Gesichter der Dunkelheit. Die Schachtel und die Flasche leeren, danach, egal. Ich habe alle Hoffnung wiedergefunden.
    Der Mann holt noch mehr Sachen raus.
    »Hier, ich habe dir eine Hose und einen Pullover mitgebracht, sogar einen Verband …«
    Stimmt ja, ich bin fast nackt. Ich ziehe den Mantel aus, den Pullover an. Aber die Hose? Wie soll ich in eine Hose reinkommen mit diesem aufgedunsenen Fuß, der sich nicht mehr strecken lässt, der bei der kleinsten Berührung vor Schmerz explodiert?
    Ich ziehe den Mantel wieder an und frage: »Wie heißt du?«
    Jetzt sind wir zwei Vornamen. Wir werden zusammen die schwarzen Bäume verlassen, und am Morgen erfahren wir den Rest. Erst mal wegfahren, schnell …
    »Willst du nicht versuchen, wenigstens die Binde drumzuwickeln? Es friert, weißt du.«
    »O nein, nicht anfassen, bloß nicht. Ich bleibe barfuß, das macht nichts.«
    »Wie du willst. Ich trage dich aufs Motorrad, halt dich an mir fest. Sag Bescheid, wenn es nicht geht. Kannst du fahren?«
    »Ja, das habe ich oft gemacht, keine Sorge. Komm, weg
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