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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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der Zigarette, die herunterbrennt, und die zehn Minuten, die der Mann mir geschenkt hat.
    »Warten Sie«, sagt er. »Ich kann doch etwas machen, und zwar ein Auto für Sie anhalten. Ein Privatwagen nimmt Sie vielleicht mit … Ich erzähle einfach irgendeine Geschichte.«
    Soll er doch machen, was er will. Ich würde mir nur gern das Bein abschneiden und schlafen, schlafen, bis es nachwächst, und aufwachen und über meinen Traum lachen. Cine schrieb mir vor kurzem: »Meine Süße, ich hatte einen Albtraum: Du warst furchtbar gestürzt, von ganz weit oben, deine Ohren bluteten, und ich konnte nichts machen, nur weinen … Als ich aufgewacht bin, habe ich dein Foto genommen und vor Freude geseufzt, weil es nicht wahr ist und weil ich dich wie jeden Morgen sehen werde, zum Anbeißen, wenn du mit deinem großen Milchtopf in die Küche rennst …«
    Rolande und ich haben uns halbtot gelacht, als wir das gelesen haben. Cine, die Freundin vom letzten Jahr, die immer noch bereit war, alles für mich hinzuschmeißen, dabei hätte ich sie längst vergessen ohne die unaufhörliche Glut dieser engbeschriebenen und winzig klein gefalteten Brieflein, die mir ein unbeteiligtes, hilfsbereites Mädchen fast täglich brachte … Cine! Ich hatte genug von ihren Gewissheiten, ihrer besitzergreifenden Hingabe, von der Spur, die sie in mir hinterlassen zu haben meinte, von ihrer Mütterlichkeit, meine Große, mein Kleines.
    Ich hatte Cine in einem Zug kennengelernt. Männer und Frauen teilten sich das Abteil, zwei klar getrennte Gruppen; die Männer sangen, die Frauen schwiegen oder weinten. Ich drückte mich ans Fenster, sah Paris davonfahren, hinter dem dreifachen Schleier der schmutzigen Scheibe, des Regens und meiner Tränen verschwimmen.
    »Nicht weinen!«
    Ich zog so leise wie möglich meine Nase hoch, wischte mit den Fingern unter meinen Augen entlang und drehte mich zu der Stimme um. Eine Frau um die dreißig mit olivenschwarzen Augen und braunem Haarknoten saß neben mir, ihr Lächeln war ebenso angenehm wie ihre Stimme. Meine Tränen versiegten, und ich schaute sie genauer an, von dem weichen Halstuch bis zu den in Hausschuhen steckenden Füßen. Ich beugte mich etwas vor und sah unter der Bank schwarze Pumps mit halbhohem Absatz: eine Vornehme.
    Ich fragte sie: »Lange? …«
    »Lange – schon oder noch?«
    »Noch. Der Rest geht mich nichts an!«
    »Warum nicht? Ist doch kein Geheimnis. Insgesamt sieben Jahre.«
    »Genau wie ich. Ich habe noch fünf, und Sie?«
    »Man weiß nie, was man noch hat: Es gibt Amnestien, Bewährung …«
    »Ach was«, sagte ich, »das ist doch alles Schwachsinn. Ja, ich weine, weil ich sicher bin, dass ich Paris für fünf Jahre verlasse. Außerdem ist es auch schon wieder vorbei, sehen Sie? Und dann noch diese Männer, die nicht aufhören zu singen. Zum Glück steigen sie unterwegs aus.«
    Wir sagten uns unsere Vornamen und unser Alter.
    »Unmündig. Aber wieso? …«, fragte Francine.
    »Pardon, mündig! Strafmündig, geistig mündig, vollkommen mündig. Der Beweis ist, dass ich zwei Jahre wie eine Große gewartet habe, bis sie mir noch fünf Jahre aufgebrummt haben. Ich bin jung, aber da, wo wir hinfahren, sind alle jung. Ich glaube, der Schulknast ist für alle unter dreißig, fünfunddreißig.«
    Allmählich änderte sich die Landschaft, wurde öder, das Licht blasser: Wir fuhren »hinauf« nach Norden. Gegen Mittag blieb der Zug endlich stehen. Ich musste dringend meine Schuhe loswerden. Ich hatte nämlich nicht daran gedacht, die Hausschuhe auszupacken, und war nach so langer Zeit in Gefängnissandalen nicht mehr an hohe Absätze gewöhnt.
    »Machen Sie Ihre Sandalen zu!« Das hatte ich zwei Jahre lang gehört, zusammen mit »Machen Sie das Schwarz an Ihren Augen weg« und »Ziehen Sie sofort Ihr Unterhemd an, nackt unter dem Pullover, das ist ja die Höhe, also wirklich!«
    Was würden sie jetzt schreien? »Kann ich Ihnen helfen?« Sie befahlen nicht mehr, sie schlugen vor und säuselten die Vorschläge, anstatt sie zu bellen. Unsere Herde versammelte sich auf dem Bahnsteig, und lächelnde, engelgleiche Frauen halfen uns, unsere Koffer, unsere schlecht geschnürten Bündel, unsere mit tausend verschiedenen unverzichtbaren Kleinigkeiten vollgestopften Beutel zu tragen.
    »Wollen wir versuchen, zusammenzubleiben?«, fragte Francine.
    Später brachten uns weitere Zeichen, weitere Zufälle noch näher zusammen: Wir wurden derselben Gruppe zugeteilt und deshalb während der vorgeschriebenen drei
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