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Astragalus

Titel: Astragalus
Autoren: Albertine Sarrazin
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dreihundert Kilometer … Sogar ich bin völlig erledigt, obwohl ich nicht fahre, und du erst, wo du seit gestern das Steuer nicht losgelassen hast!«
    »Du wirst sehen, Anne, wenn wir zusammen sind, nachts … Endlose Nächte fahren, weil man unbedingt irgendwohin muss oder unbedingt irgendwo weg … Genau, ich bring dir das Fahren bei, damit du mich ablösen oder den Schlitten zurückfahren kannst.«
    »Fahren! Und wie soll ich mit meinem steifen Fuß kuppeln?«
    »Doch, doch, das lernst du schon. Jedenfalls wirst du dann merken, wie unwichtig Müdigkeit und die Lust zu schlafen werden.«
    Ich lege mich nicht wieder auf die Rückbank. Ich bleibe vorn, gebe mir Mühe, auf die Straße zu starren, sie so zu erkennen, wie sie tatsächlich sein muss. Aber die Bäume lösen sich in Fäden gräulicher Nacht auf, während sich die Zwischenräume, in denen die echte Nacht ist, den Randstreifen nähern und breite dunkle Stämme darstellen, undeutliche Silhouetten überqueren die Straße, stolpern und springen, prallen an die Motorhaube und werden von ihr verschluckt. Das Gewölbe der Äste stößt riesige, schmutzige Spinnennetze hervor, die von den Scheinwerfern zerschnitten werden und sich sofort neu bilden; es regnet Spinnen auf das Auto …
    Julien muss sie auch sehen. Er kämpft mit der Nacht, Zuckungen reißen ihn plötzlich vom Sitz, er fällt zurück und beugt sich über das Lenkrad; er singt, lacht und schreit. Dann wird er etwas langsamer und schüttelt sich.
    »Kannst du mir eine anzünden?«
    Ich zünde zwei Zigaretten an, ich schiebe eine sorgfältig zielend zwischen seine Finger. Meine verbrennt mich, fällt runter, ich höre nicht auf einzuschlafen und aufzuwachen.
    Endlich sind wir vor den Toren von Paris.
    Ich steige aus und strecke mich. Der Gehsteig unter meinen Absätzen schwankt und vibriert wie der Autoboden. Ich sage: »Komm, wir nehmen ein Zimmer. Um diese Zeit werden die Fleppen nicht mehr genau gefilzt.«
    »Kein Stück!«, protestiert Julien. »Wir haben doch den ganzen Weg nicht gemacht, um jetzt ein Zimmer zu nehmen.«
    »Du wirst in ihrer Kiste zusammenbrechen …«
    »Mach dir keinen Kopf! Aber du gehst schon mal schlafen, ich schaff sie mir vom Hals und komme nach … Nein, wenn ich es mir überlege, ich warte lieber im Auto vor dem Hotel. Für die Anmeldung habe ich nur meinen Schein als Unerwünschter, und …«
    »Komm schon! Du schreibst irgendwas. Nur ein paar Stunden.«
    » … ich bin Punkt acht unten. Ruh dich gut aus und vergiss nicht den Weckdienst zu bestellen.«
    Ohne noch etwas zu sagen, lasse ich Julien hinten meine Toilettentasche aus meinem Koffer holen.
    Mit Schritten aus Blei und Eis gehen wir auf das erste Schild zu, das ein Hotel ankündigt. Meine Füße rutschen über die Pflastersteine und bleiben in den Metrogittern hängen, meine Lider fallen zu. Um uns herum errichtet die Hexerei des Schlafes eine phantastische, schwankende, blendende Kulisse.
    … Das Bett, der Tisch, die Halbwand der Toilettenecke – ich bewege mich von einem Haltepunkt zum nächsten, gebeugt, schleppend, das Zimmer ist groß wie eine Wüste. Als ich endlich in meiner Wolke der Ermattung liege, drehe ich mich auf die andere Seite, ertaste die Wand neben dem Bett. Ohne richtig zu schlafen, habe ich Albträume: Leute rennen, suchen mich, rufen schmeichelnde oder mörderische Sätze. Ich bin vor ihnen, aber sie sehen mich nicht. Ich trete zwischen sie, ich schreie meinen Namen, aber ich habe keinen Namen, und alle schieben mich weg, ohne mich erkannt zu haben, auch die, die vorgaben, mich zu lieben. Also renne ich, renne endlos zwischen Weiten mit Bäumen, Steinen und Wasser. Nackt und schwarz flüchte ich, meine Jugend umklammernd, über von Luft und Licht durchwebte Abhänge.
    Wo ist der Traum? Wohin zieht mich das Morgen? Das Abtauchen heute früh, am Strand … die bitteren Blasen steigen wieder auf … Komm zurück, Julien. Ich erwarte dich in der Reinheit dieses weichen Betts.
    »Herein! …«
    Mir fällt ein, dass ich nackt bin, ich ziehe das Laken bis zu den Schultern hoch. Die Tür geht auf, das Frühstückstablett kommt herein, getragen von Rolande: »Es ist sieben Uhr, Madame.«
    Sie stellt das Tablett auf die Ecke des Tischs und verschwindet. Auch sie hat mich nicht gesehen. Was treibst du hier, magere Rolande? Willst du nicht mit mir frühstücken? Wir haben doch oft genug davon geträumt, während wir gemeinsam die braune Brühe im Gefängnis hinunterkippten, ehe jede in ihre Werkstatt
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