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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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die schmale Öffnung, die uns daran erinnerte, dass es eine Welt da draußen gab, verschwand hinter einer Biegung des unterirdischen Flusses.
    Leonard versuchte, die Fackel so zu halten, dass wir sahen, wohin wir fuhren, und bei jeder Bewegung blitzten die nassen, mit Kalksinter überzogenen Wände auf wie lebendes Fleisch.
    Christine hörte auf zu rudern und ließ das Boot mit der Strömung treiben.
    Aus dem Inneren drang kein Laut. Hier lebten nicht einmal Fledermäuse. Es gab nur Stille, und wenn ein Tropfen fiel, klang es, als würde ein Felsblock ins Wasser fallen.
    Neben uns ragten vier spitze Steinkegel auf, die wir immer wieder rammten.
    »Bist du sicher, dass dein Vater hier ist?«, fragte Christine kaum hörbar.
    »Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.«
    »Man sieht überhaupt nichts«, murmelte Leo und versuchte aufzustehen, um das Gewölbe auszuleuchten.
    Der Lichtschein wurde von den Gebilden an der Höhlendecke reflektiert, das Ganze wirkte wie eine natürliche Kathedrale. Die Natur hatte erstaunliche Formen geschaffen und eine neue Architektur erfunden, die aus Knochen und Salz zu bestehen schien. An bestimmten Stellen hatten sich Stalaktiten und Stalagmiten zu richtigen, echten Säulen vereint.
    Es roch zwar nach verbranntem Benzin, aber der Geruch des Wassers und der Kristalle war dennoch deutlich auszumachen.
    Dann hielt das Boot.
    »Vielleicht ist hier ein Loch im Boden«, vermutete Leo, als er die Fackel bewegte und sah, dass die Fahrt zu Ende war. »Da vorn müsste das Wasser, statt weiterzufließen, durch Spalte in die Tiefe fallen.«
    »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Christine.
    Ich nahm ihr ein Ruder aus der Hand und stakte uns ans Ufer.
    »Wir steigen aus und gehen zu Fuß weiter«, sagte ich.
    Der Boden war tatsächlich begehbar. Nachdem Leo für die richtige Beleuchtung gesorgt hatte, sahen wir, dass die Grotte sich zu einem Tunnel verengte.
    Wir stiegen aus dem Boot und achteten darauf, nicht auszurutschen. Der Boden war mit einer glitschigen Schicht überzogen, wahrscheinlich Schimmel.
    »Ich geh voraus«, sagte ich und setzte mich an die Spitze.
    Leo folgte mir mit der Fackel.
    Wir drangen ich weiß nicht wie viele Meter in die Eingeweide des Felsgesteins ein, bis der Durchgang wieder breiter wurde und wir uns plötzlich im Herz der Grotte befanden.
    Die Höhle war riesig und finster. Die Decke war meterhoch, und die Steingebilde ließen die Dunkelheit entsetzlich komplex erscheinen.
    »Deshalb nennt man sie also Mondgrotte«, sagte Christine und deutete nach oben.
    Oben an einer Höhlenwand erblickten wir ein vollkommen rundes Loch, durch das Tageslicht fiel.
    »Hey Wahnsinn!«, sagte Leo, dessen Pupillen sich zusammenzogen.
    Ein heller Lichtstrahl drang in jeden Winkel und vermittelte uns den Eindruck, in einer Vollmondnacht unter einem Sternenhimmel zu stehen.
    Doch das Staunen über diesen wunderbaren Ort dauerte nicht lange.
    Wir folgten dem Lichtstrahl mit den Augen und fanden, was wir gesucht hatten. Das helle Licht fiel auf Ludkars Körper.
    »Mein Gott!«, entfuhr es Christine.
    Der Körper des Vampirs, mit den mittlerweile zerlumpten Kleidern, war auf dem größten Stalagmit der Höhle aufgepfählt.
    Da lag er reglos wie ein Toter, der Tropfstein durchbohrte ihn von vorn nach hinten. Arme, Beine und Kopf hingen herunter, als hätte er sich in einen Augenblick der Ewigkeit gestürzt.
    Vorsichtig näherten wir uns.
    Wir wollten das Gleichgewicht dieses scheinbaren Todes nicht durcheinanderbringen. Und gerade als wir die makabre, fast lebende Skulptur betrachteten, die aussah wie ein gefallener, von Gott verstoßener und in die Hölle geschleuderter Engel, wisperte eine Stimme in der Dunkelheit: »Wer seid ihr?« Es klang wie trockenes Laub im Wind.
    Ein paar Sekunden regten wir uns nicht, dann aber konnte ich mich nicht mehr beherrschen.
    »Dad!«, schrie ich so laut, dass die Wände bebten.
    Ich sah mich um, spähte in jeden Spalt.
    Ich hörte ein gequältes Röcheln.
    »Dad!«, rief ich leise und entfernte mich von meinen Freunden.
    Beim zweiten Wispern drehte ich den Kopf nach rechts.
    Mein Herz fing an zu klopfen. Aber es war keine Angst. Oder vielleicht doch.
    Der Gedanke, meinen Vater zu treffen, machte mir Angst.
    Denn der dunkle Schatten, der nun auf mich zukam, war ganz bestimmt mein Vater, dessen war ich mir sicher. Der Vater, den ich tot geglaubt hatte, der jedoch gar nicht sterben konnte.
    Ein schwarzer Schatten, sehr hager und sehr groß, kam hervor. Aus der
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